Der Sixtinische Himmel
sich tiefer, als es notwendig gewesen wäre. Es war die Geste eines Mannes, dem auch die tiefste Verbeugung den Sieg nicht mehr nehmen konnte.
* * *
Aurelio war dankbar, endlich gebraucht zu werden. Von Kindesbeinen an war er gebraucht worden. Darauf zu warten, dass es etwas zu tun gab, erfüllte ihn mit Unruhe. Rosselli seinerseits war dankbar, einen so gelehrigen Gehilfen an seiner Seite zu haben. Gemeinsam mit einem Zimmermann, den Piero von früher kannte, stellten sie aus Teilen, die sie im Garten hinter der Kapelle zusammenfügten, innerhalb weniger Tage die erste Brücke fertig. Michelangelos Berechnungen erwiesen sich als richtig: Je größer das Gewicht, desto sicherer der Halt. Keinen Monat nach Beginn der Arbeiten war der halbe Sternenhimmel hinter Bühnen verschwunden, unter denen wiederum Planen hingen, damit nicht Teile des Putzes beim Abschlagen von der Decke fielen.
Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Michelangelo hatte darauf spekuliert, die Decke in martellinatura vorbereiten zu können. Nach dieser Technik wurde das vorhandene Fresko durch zahllose Schläge mit einem Spitzhammer so perforiert, dass man den Putz für das neue Fresko direkt auf dem alten aufbringen konnte. Diese Hoffnung jedoch zerschlug sich, als Piero und Aurelio erstmals zum Gewölbe hinaufstiegen, um die Festigkeit der Bühne sowie die Beschaffenheit der Decke zu prüfen.
Piero klopfte den Sternenhimmel über ihren Köpfen ab. »Hm«, machte er und richtete seinen Blick auf Aurelio. »Was meinen deine begabten Hände dazu?«
Aurelio streckte seine Hand nach den Sternen und klopfte am Himmel an. »Das Fresko hat sich vom Mauerwerk gelöst«, stellte er fest.
»Und das bedeutet?«
»Kein martellinatura .«
»Sondern?«
»Wir müssen das gesamte Fresko abschlagen.«
»Und einen neuen Arriccio auftragen.«
Der Arriccio war eine fingerdicke Putzschicht, die als Ausgleichsbewurf auf das Mauerwerk aufgetragen wurde. Für das eigentliche Fresko diente er jedoch nur als Vorbereitung. Der Intonaco, die Schicht, in die das Fresko eingearbeitet wurde, würde erst später aufgebracht werden – wenn der Arriccio vollständig durchgetrocknet wäre, was Wochen oder gar Monate dauern konnte. Wollte Michelangelo mit den Arbeiten am eigentlichen Fresko noch vor dem Winter beginnen, galt es, jeden Tag zu nutzen.
* * *
Als Erstes ließ Rosselli den Tischler Seilwinden an den Bühnen anbringen. Für jeden Sack mit abgeschlagenem Putz, den Aurelio abseilte, zog er einen mit Sand oder Kalk herauf. Zwei Gehilfen hackten den Sternenhimmel von der Decke, während Aurelio den neuen Putz für Piero anrührte. Dabei bewies er großes Geschick: Der Arriccio hatte immer die perfekte Konsistenz, egal wie kalt oder warm, wie feucht die Luft oder wie groß der Eimer war. Von Anfang an verzichtete Aurelio darauf, die Mengen an Kalk, Sand und Wasser abzumessen, sondern verließ sich ausschließlich auf sein Feingefühl. Rosselli war begeistert: »Deine begabten Hände werden uns eine Menge Nacharbeiten ersparen!«
Von da an fühlte sich Aurelio endgültig aufgenommen. Und Piero, der ihn stets mit Respekt behandelte, tat das Seinige, ihn in diesem Gefühl zu bestätigen, auch wenn Aurelio bislang nur Hilfsarbeiten verrichtete. »Ein Fresko ist keine Holztafel, die mit Ölfarben bemalt werden will«, sagte er. »Viele Arbeiten müssen ineinandergreifen, damit ein Fresko gelingen kann – vom Auftragen des Arriccio bis zum Stampfen der Farben. Und jeder Teil ist wichtig. Was nutzt dir das schönste Fresko, wenn es von der Decke fällt, bevor der Putz getrocknet ist?«
Dreimal täglich erschien Michelangelo in der Kapelle. Manchmal stieg er zu ihnen herauf, manchmal stand er nur unten und rief: »Piero?«
Die Antwort war stets dieselbe: »Hier oben!«
»Wie geht die Arbeit voran?«
»Sie geht voran.«
»Mit Aurelio alles in Ordnung?«
»Warum fragst du ihn das nicht selbst?«
Nach dieser Antwort verließ Michelangelo jedes Mal wortlos die Kapelle.
»Warum tut er das?«, fragte Aurelio eines Nachmittags.
Rosselli lächelte sein gutmütiges Lächeln. »Warum fragst du ihn das nicht selbst?«
* * *
Als Nächstes erlernte Aurelio den Umgang mit Kelle und Spachtel. Zunächst ließ Piero ihn Probeflächen auftragen. Am ersten Abend legte er ein Kantholz an, zeigte Aurelio die Unebenheiten und sagte: »Abschlagen.« Als er am zweiten Tag das Kantholz anlegte, war es Aurelio, der ihm zuvorkam und sagte: »Abschlagen.« Am dritten Abend legte Aurelio
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