Der Sixtinische Himmel
selbst das Holz an. Rosselli klopfte ihm anerkennend auf die Schulter: »Ab morgen dann über Kopf.«
Voller Eifer machte sich Aurelio an die Decke. Piero hatte ihm eine Stelle in der Mitte zugewiesen, wo die Wölbung am geringsten war. Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt noch nicht erreicht, da glaubte Aurelio, nie wieder seinen Arm heben zu können, geschweige denn eine Kelle. Die Schmerzen in seiner Hand und besonders in der Schulter hätte er noch bezwingen können, das Gewicht seines eigenen Arms jedoch … Unmöglich.
Erschöpft ließ er sich auf die Bretter fallen. Wie schafften es die beiden Gehilfen, seit einer Woche von morgens bis abends den Putz über ihren Köpfen abzuschlagen, ohne vor Entkräftung zusammenzubrechen? Und der schmächtige Piero – wo nahm er die Kraft her, so lange über Kopf den Arriccio aufzutragen? Und warum war er nicht, wie Aurelio, von Kopf bis Fuß mit Putz besudelt? Aurelio hatte nicht einmal mehr die Kraft, sich die getrockneten Brocken aus den Locken zu zupfen. Und das, obwohl er seit Jahren an harte Feldarbeit gewöhnt war. Piero trat an ihn heran, begutachtete die verputzte Fläche und legte das Kantholz an.
»Oh nein!«, stöhnte Aurelio.
Als er am Abend sein Arbeitshemd abstreifte, stellte Rosselli sich vor ihn und betrachtete ihn nachdenklich. Schließlich legte er ihm zwei Finger auf eine Stelle oberhalb des rechten Schlüsselbeins. Aurelio schrie auf und ging unter dem Gewicht der beiden Finger in die Knie.
»Ricotta«, sagte Rosselli nur.
Zwei Wochen lang quälte sich Aurelio bis an den Rand der Ohnmacht. Die Schmerzen erschöpften ihn mehr als die eigentliche Arbeit. Rosselli riet ihm, häufiger Pausen einzulegen, aber nicht auszusetzen. »Die Bewegung formt das Organ«, sagte er. Abends legte er ihm Wickel mit Ricotta an. Nachts brannte die Schulter, als hätte sich Aurelios Schlüsselbein in glühendes Eisen verwandelt. Die einzige Position, in der er wenigstens für einige Stunden Schlaf finden konnte, war auf dem Rücken liegend, sein Kissen unter dem Arm. Den Rest der Nacht lauschte er Michelangelo, der in der Kammer über ihm seine Kreise drehte.
* * *
Einmal hörte er seinen Meister nachts die Treppe herabsteigen. Der Lichtschein einer Kerze kroch unter Aurelios Tür hindurch. Eine Weile meinte er, Michelangelo atmen zu hören. Schließlich zog sich der Lichtschein wieder zurück. Kurz darauf waren aus der Werkstatt Hammerschläge zu vernehmen, Eisen, das auf Eisen traf, gleichmäßig wie ein Räderwerk. Fünf Schläge, Pause, fünf Schläge, Pause, fünf Schläge, Pause. Ein großes, gleichmäßiges Atmen. Kling, kling, kling, kling, kling – Pause. Am nächsten Morgen war der Bereich um die Marmorsäule von weißem Staub und glitzernden Brocken bedeckt. Über Nacht hatte sich ein Fuß zur Hälfte aus dem Stein befreit, spreizte die Zehen und stemmte seinen Ballen auf den Boden, als wolle er den Block von sich abschütteln. Der Marmor war zum Leben erwacht.
Das nächste Mal, dass Aurelio seinen Meister die Treppe herunterkommen hörte und sein Türspalt vorübergehend vom Schein einer Kerze erleuchtet wurde, blieb das erwartete Hämmern aus. Vorsichtig drehte Aurelio sich auf die Seite, hielt sich den Arm, stand auf und ging in die Bottega. Michelangelo hatte sich aus Draht ein Gestell geformt, einen Reif, der ihm auf dem Kopf saß. Auf der Stirnseite entsprang diesem Reif ein ausgreifender Bogen, der sich in den Raum streckte und eine brennende Kerze hielt. Eine Arbeitsleuchte. Mit jeder Bewegung Michelangelos änderte der Marmorblock seine Gestalt. Der Rest der Bottega war von seinem Schatten erfüllt.
Schwer atmend kniete er vor der Marmorsäule, Hammer und Spitzeisen neben sich auf dem Boden, die Hände auf den Oberschenkeln. Mit jedem Atemzug hob und senkte sich sein Schatten. Er sprach, ohne sich umzudrehen.
»Wie kann er mir das antun?« Seine Stimme war in Tränen gebadet.
Aurelio antwortete nicht. Er wusste, wovon sein Meister sprach, auch wenn er die Tiefe seines Abgrunds nicht ermessen konnte. Der Marmor. Sein Leben. Seine Bestimmung. Der Grund, weshalb er auf der Welt war. Ausersehen. Jedes Wort Aurelios hätte automatisch eine Anmaßung bedeutet.
Michelangelo wandte sich um. Der zitternde Schatten des Drahtarms teilte sein Gesicht in zwei Hälften. Für einen Moment tauchte er aus seiner Versunkenheit auf und streckte seine Hände vor: »Wie lange muss ich warten, bevor ich tun darf, wozu Gott mir diese Hände gegeben
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