Der Sixtinische Himmel
können.
Piero lächelte. »Deinen begabten Händen natürlich.«
Aurelio besah seine gespreizten Finger. »Schätze, wir können uns glücklich schätzen.«
Pieros Lächeln weitete sich. »Nun, ich schätze, das können wir.«
XX
Die ersten Missstimmungen innerhalb der Bottega traten Ende August zutage. Aurelio war der Verzweiflung nahe, als er erkannte, dass er der Anlass dafür war. Niemandem war die Vorzugsbehandlung entgangen, die Michelangelo ihm angedeihen ließ. Solange Aurelio von morgens bis abends in der Kapelle gearbeitet hatte, war dies nicht weiter ins Gewicht gefallen. Jetzt jedoch, da alle darauf warteten, dass der Arriccio trocknete, und fünf Gehilfen vollauf damit beschäftigt waren, Michelangelos Ideen umzusetzen, nahm sein Verhalten groteske Züge an.
Regelmäßig schickte er Aurelio fort, um die Werkstatt in Ordnung zu bringen oder das Abendessen vorzubereiten, doch sobald Aurelio sich tatsächlich zum Gehen wandte, schrie er ihn an: »Wo willst du hin? Ich brauche dich hier!«
Hielten sie sich im selben Raum auf, wurde Michelangelo von einer seltsamen Befangenheit befallen, die sich zu einer Starre steigern konnte, die jede Unterhaltung mit ihm unmöglich machte. Erst wenn Aurelio den Raum verließ, fiel sie wieder von ihm ab.
Aurelio wusste, dass die anderen hinter seinem Rücken darüber redeten. Manchmal, wenn Michelangelo und er von einem Besorgungsgang zurückkehrten, wechselten sie das Thema, sobald sich die Tür zur Bottega öffnete. Einmal hatte Aurelio aus der Küche gehört, wie der leichtfertige Granacci mit Michelangelo über ihn sprach und fragte: »Warum tust du dir das an?«
Michelangelo war in einem Zwiespalt gefangen, und jeder konnte ihn sehen: Einerseits war es ihm unerträglich, Aurelio nicht in seiner Nähe zu wissen, andererseits durfte er ihm nicht zu nahe kommen. Besonders auffällig trat dieser Zwiespalt bei den gemeinsamen Essen zutage. Michelangelo verlangte, dass niemand zwischen Aurelio und ihm sitzen dürfe, schob jedoch Aurelios Stuhl jedes Mal so weit von sich weg, dass alle anderen zusammenrücken mussten. Räumte Aurelio nach dem Essen das Geschirr ab oder nahm den Besen zur Hand, befahl Michelangelo: »Lass das! Solche Arbeiten sind nichts für dich.«
Nach Aurelio war Bastiano der Jüngste in der Bottega, und so traf es am Ende meist ihn, wenn es darum ging, niedere Dienste zu verrichten. Bastiano war schwer gekränkt, und alle fühlten mit ihm. Niemanden hätte Michelangelos Herabwürdigung härter treffen können, denn niemand sah mehr zu ihm auf als Bastiano.
Der Neffe Giuliano da Sangallos hatte in Florenz in derselben Werkstatt gelernt wie die anderen, allerdings nicht mehr unter Ghirlandaio selbst, sondern unter dessen Sohn. Anschließend hatte er als Gehilfe bei Pietro Perugino angeheuert. Der inzwischen über sechzigjährige Perugino war damals, als Sixtus die Kapelle erbauen ließ, unter den Künstlern gewesen, die Lorenzo de’ Medici nach Rom geschickt hatte, um deren Wände mit Fresken zu versehen. Von ihm stammten fünf Arbeiten in der Kapelle: die Geburt Christi, die Taufe Christi, die Schlüsselübergabe, die Auffindung des Mose und die Wanderung des Mose nach Ägypten.
Aurelio kannte Peruginos Fresken in- und auswendig. Die »Schlüsselübergabe«, die sich, wie alle Geschichten aus dem Leben Jesu, an der Nordwand befand, gefiel ihm am besten. Im Mittagslicht offenbarte sich ihre ganze Tiefe. Im Vordergrund war Jesus zu sehen, wie er dem vor ihm knienden Petrus die Schlüssel übergab. Das eigentlich Faszinierende aber war der Platz, auf dem sie sich befanden und der wie durch Zauberhand in die Länge gezogen wurde. Nach Vollendung dieses Freskos galt Perugino, bei dem später auch Raffael in die Lehre ging, lange als größter Maler Italiens. Bastiano allerdings blieb nur so lange sein Schüler, bis er in der Basilika Santa Maria Novella Michelangelos Karton für »Die Schlacht von Cascina« erblickte. Im Vergleich dazu erschien ihm alles, was Perugino je gemacht hatte, im »vorigen Jahrhundert steckengeblieben« zu sein.
Jetzt, da er Aufnahme in Michelangelos Bottega gefunden hatte, hätte er eigentlich überglücklich sein sollen. Doch wann immer Bastiano sich daranmachte, einen Entwurf seines Meisters für eine Lünette oder einen Spitzbogen auszuarbeiten, warf Michelangelo am Ende nur einen flüchtigen Blick darauf und sagte: »Ja, ja, ganz schön. Aber wir machen es anders.«
* * *
Von Anfang an war Bastiano seinem
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