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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Augen starrten ihn an, Monster, die er sich nicht einmal in den schlimmsten Träumen hätte ausdenken können, streckten schlangenartige Tentakel nach ihm aus. Körper, verstümmelt, entstellt, mit Krötenbeinen, Eutern statt Brüsten und gespaltenen Zungen als Warzen. Glatzköpfe mit Tiermäulern, Torsos mit abgezogener Haut … Das Schlafzimmer seines Meisters war eine Kammer des Schreckens.
    »Bist du deshalb gekommen – um die Dämonen in Augenschein zu nehmen, die mich verfolgen?«
    Vor Schreck ließ Aurelio sämtliche Blätter fallen. Michelangelo hatte den Stuhl in die Mitte des Raumes gestellt und kauerte darauf wie ein Sünder in Erwartung seiner Bestrafung. Aurelio war zugleich entsetzt und überwältigt.
    »Schließ die Tür.«
    Aurelio schloss die Tür.
    »Weshalb wolltest du mich sprechen?«
    Aurelio drehte sich um, wagte sich aber nicht von der Stelle. Was hätte er sagen könne, angesichts all dessen? Er war nichts, ein Niemand, er … Er sollte die Bottega verlassen, schoss es ihm durch den Kopf. Zurück nach Forlì, Ziegen melken, den Acker pflügen. Säen und ernten.
    Michelangelo legte die Hände ineinander. »Also?«
    »Ich bitte Euch, mich nicht länger so zu behandeln«, platzte Aurelio heraus.
    Michelangelo verzog die Lippen. »Wie behandele ich dich denn?«
    »Anders.«
    »Wie anders?«
    »Anders als die anderen.«
    Michelangelo hob eine Zeichnung auf, betrachtete sie, als hielte er Zwiesprache mit ihr, und ließ sie wieder zu Boden gleiten. »Ich kann nicht.«
    »Was könnt Ihr nicht?«
    »Dich so behandeln wie die anderen.«
    Aurelios Schläfen begannen zu pochen. »Maestro Buonarroti … Ich weiß, Ihr seht etwas in mir. Ich weiß nicht, was es ist, aber … Was immer es ist: Ich verdiene es nicht.«
    Statt zu antworten, senkte Michelangelo nur seinen Blick.
    Aurelio wusste nicht, wohin mit sich. Michelangelo Buonarroti vor sich zu haben, der ihm seinen Blick zu Füßen legte … Er wandte sich ab. Die Frage, die er seinem Meister jetzt zu stellen hatte, würde er ihm niemals offen ins Gesicht sagen können.
    »Was seht Ihr in mir, Maestro?«
    Lange Zeit war nur das leise Zischen seines Atems zu hören. Als Aurelio sich ihm wieder zuwandte, schien Michelangelo inmitten seiner Dämonen wie in einem Teich voll blühender Seerosen zu schwimmen. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Er lächelte sehr selten, und wenn, dann wohnte diesem Lächeln stets eine Träne inne. Diesmal war es mehr als eine.
    »Wenn ich dich ansehe, Aurelio …«, setzte er an. »Wenn ich dich ansehe, dann glaube ich jedes Mal, den ersten Menschen vor mir zu haben. Unverstellt. Und rein. Und frei von jeder Schuld. Ich sehe Adam vor mir, in dem Moment, da Gott ihm die Seele einhauchte. Bevor die Sünde geboren wurde. Und das Elend über die Welt kam.«
    Das folgende Schweigen wog schwerer als Granit. Sein Gewicht presste Aurelio die Luft aus den Lungen. Er würde die Bottega verlassen. Nach dem, was sein Meister ihm soeben offenbart hatte, gab es keine andere Möglichkeit mehr. Solange er bliebe, könnte die Situation nur schlimmer werden.
    »Ich werde nicht zulassen, dass du gehst«, sagte Michelangelo mit einer Stimme, die Aurelio einen Schauer über den Rücken jagte. Abwesend murmelte er: »Adam …«. Seine Finger begannen zu zucken. Er kratzte sich den Bart. Anschließend zupfte er seine Unterlippe. Am Pfeifen seiner Nase erkannte Aurelio, dass sich sein Atem beschleunigte. »In dem Moment, da Gott ihm die Seele einhaucht …« Den Blick ins Nichts gerichtet, erhob sich Michelangelo, ging zur Kammertür und veschwand in der Dunkelheit.
    Aurelio fand ihn in der Küche. Die Arme seitlich aufgestützt stand er über den Tisch gebeugt und betrachtete die leere Fläche. Noch immer zuckten seine Finger.
    Aurelio wagte sich nicht über die Schwelle. »Maestro?«
    »Die Schöpfung …«
    »Kann ich etwas für Euch tun?«
    Die Finger seines Meisters begannen, auf dem Tisch umherzuwandern. »Für den Deckenspiegel …«
    »Maestro?«
    »Hm?«
    »Kann ich etwas für Euch tun?«, wiederholte Aurelio.
    Michelangelo sah ihn an, als habe er Aurelios Frage nicht verstanden. Hatte er auch nicht. »Was?«
    »Kann ich etwas für Euch tun?«
    Der Bildhauer blickte sich um. Erst jetzt schien er zu bemerken, dass er in der Küche stand. »Vier Kerzen, schwarze Kohle, alles, was du in der Werkstatt an großen Blättern finden kannst. Und dann lass mich allein.«

XXI
    »Hinaus!« Michelangelos Ruf rüttelte das

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