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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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stieß er einen Laut aus, in dem die Freude über das Bewusstsein, von Gott auserwählt zu sein, sich mit dem Erkennen einer einmaligen Verantwortung mischte.
    »Aurelio, Piero!« Michelangelos Worte sprangen zwischen den Wänden hin und her. »Habt ihr das gehört? ›Tut, was Euch beliebt‹, hat er gesagt, ›überrascht mich‹!«
    Michelangelos Freude war so groß, dass Rosselli und Aurelio sich auf der Bühne in die Arme schlossen und gegenseitig auf die Schulter klopften.
    »Allora«, sagte Rosselli. Er war um einen sachlichen Ton bemüht, doch die Erleichterung sprach ihm aus jeder Pore. Die Sorge um seinen Freund hatte ihn stärker bedrückt, als er es sich hatte anmerken lassen. »An die Arbeit.«
    In diesem Moment öffnete sich die Pforte der Kapelle, und ein Mann trat ein, dem vier weitere folgten wie Entenküken ihrer Mutter. Die Ärmel seines weitgeschnittenen Hemdes öffneten sich wie Schwingen, als er seine Arme ausbreitete. »Hast du etwa graue Haare bekommen?«, fragte er Michelangelo.
    Der legte seine zum Gewölbe erhobenen Hände ineinander: »Meine Gebete sind erhört worden!«

XIX
    Francesco Granacci war Michelangelo der Liebste von allen. Für ihn hätte sich der Bildhauer jederzeit in Festungshaft nehmen lassen. Er genoss sein bedingungsloses Vertrauen. Dabei hätten Michelangelo und sein Florentiner Freund unterschiedlicher kaum sein können. Bereits die erste Begegnung in der Kapelle hatte es gezeigt: Granacci war alles, was Michelangelo nicht war. Er trug ein senffarbenes Hemd aus glänzendem Stoff, dazu ein federgeschmücktes Barett, um das ihn manch junger Adeliger beneidet hätte. Wenn er redete, untermalten seine Hände die kräftige Stimme mit den weit ausholenden Gesten eines Mannes, der das Leben in vollen Zügen genoss. Und nicht erst seit gestern. Sein Gesicht zeugte davon: Es hatte viel gelacht, viel gegessen und noch mehr getrunken. Er hatte die Augen eines sorglosen Kindes, doch seine Haut war früh gealtert.
    Erst im Laufe der kommenden Wochen sollte Aurelio verstehen lernen, dass es sich bei Granaccis Hang zur Ausschweifung nicht nur um eine lasterhafte Angewohnheit handelte, sondern dass die Maßlosigkeit und die Verweigerung jeder Art von Verantwortung über sich selbst hinaus Teil seines Wesens waren. Sich einzuschränken hätte für ihn bedeutet, einen anderen Menschen aus sich zu machen. Als Michelangelo ihm nach einer durchzechten Nacht vorhielt, dass der viele Wein und die vielen Frauen ihn noch ins Grab brächten, antwortete Granacci seelenruhig: »Das Leben ist es, das uns ins Grab bringt. Mich und dich und alle anderen vor uns und nach uns.«
    Es gab nichts, was Michelangelo seinem Freund nicht nachgesehen hätte. Manchmal schien es Aurelio sogar, dass sein Meister über Granaccis Eskapaden ganz froh war. Als würde Granacci für ihn, Michelangelo, all das tun, was er selbst sich niemals gestattet hätte. Michelangelo war maßlos nur in dem, was er sich versagte, und in dem, was er sich als Künstler abverlangte. Als nähre er sich von der Qual – in der Kunst, im Leben, in der Liebe. Manchmal konnte er Ruhe in seiner Arbeit finden, wenn er, Schlägel und Eisen in Händen, in seinem Atelier den Sklaven aus dem Marmor befreite. Glück jedoch fand er nie.
    Weshalb allerdings Michelangelo ausgerechnet Granacci für derart unverzichtbar bei dem Projekt hielt, blieb Aurelio ein Rätsel. Unter all den Florentiner Künstlern, die jetzt die Bottega bildeten, war Granacci der Einzige, der noch nie ein Fresko gemalt hatte. Und der nach eigener Aussage auch nicht vorhatte, sich je an einem zu versuchen. Er sah nicht ein, weshalb er derartige Mühen und Strapazen auf sich nehmen sollte, wo sich doch mit einer Holztafel und einfachen Ölfarben die schönsten Bilder malen ließen.
    Rosselli hatte Aurelio erzählt, dass Granacci unter den Schülern Ghirlandaios als das größte Talent gegolten hatte – bis der damals erst vierzehnjährige Michelangelo in dessen Bottega aufgenommen worden war. Seine Begabung zeigte sich sehr bald, doch anders, als so mancher in Ghirlandaios Werkstatt vermutete, wurden die beiden nie zu Konkurrenten. Granacci erkannte das überragende Talent des sechs Jahre Jüngeren neidlos an und unterstützte ihn, wo er konnte.
    »Michelangelo musste Francesco niemals fürchten«, erklärte Piero, »nur deshalb konnten sie Freunde werden.«
    Die hohen Erwartungen, die sich an Granaccis künstlerische Begabung geknüpft hatten, sollten sich nicht erfüllen.

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