Der Sixtinische Himmel
Seine Bilder bezeugten nach wie vor sein Talent, doch nächstes Jahr würde er vierzig werden, und der große Wurf, das Bild, das ihn über den Stand anderer Künstler hinaushob, war nicht unter seinen Arbeiten gewesen. Viele, auch Granacci selbst, hatten Zweifel, dass es ihm noch gelingen würde.
Aurelio fragte Rosselli, worin er den Grund dafür sehe. »Mangelnder Wille«, erklärte Piero, »Es ist ihm einfach nicht wichtig.«
Granacci war es gelungen, jene vier Künstler als Gehilfen zu gewinnen, auf die er gehofft hatte: Giuliano Bugiardini, der ebenso alt war wie Michelangelo und ebenfalls bei Ghirlandaio gelernt hatte; Agnolo di Donnino, der bereits seit zwanzig Jahren mit seinem jüngeren Bruder in Florenz eine Werkstatt für Porträts, Fresken und Altarbilder betrieb; Jacopo del Tedesco, der sich vor allem für seine Bezahlung interessierte und bis zuletzt gezögert hatte, und schließlich Bastiano da Sangallo, der noch keine dreißig war, in Michelangelo die »Zukunft der Kunst« sah und dessen Onkel Michelangelos langjähriger Freund Giuliano da Sangallo war.
* * *
Granacci teilte die Schlafplätze auf: Das neugeschaffene Lager im Atelier wies er Giuliano und Agnolo zu, Jacopo steckte er zu Piero in die Kammer, und Aurelio erhielt Bastiano als Bettgenossen, der von allen nur Aristotele genannt wurde, weil es in Florenz ein Porträt des Philosophen gab, das ihm täuschend ähnlich sehen sollte. Granacci selbst, der nicht vorhatte, allzu viele Nächte in einem »Stall voller Böcke« zuzubringen und der außerdem keine Geldsorgen zu haben schien, ließ sich ein Bett kommen und bezog in einer Ecke des Ateliers Quartier. Wie er vorausgesagt hatte, blieb sein Lager jedoch meist leer.
In den folgenden Wochen hielt die nervöse Aufbruchsstimmung alle zusammen. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt sagen, wer wie lange an dem Projekt mitarbeiten würde. Trotzdem stellte sich jeder in den Dienst der gemeinsamen Unternehmung. Außerdem gab es in der Bottega keinen, der nicht wenigstens ein bisschen von Michelangelos Schöpfungswut angesteckt wurde. Seit Julius ihm freie Hand für die Gestaltung des Freskos gegeben hatte, war er wie eine Kerze, die an beiden Enden gleichzeitig brannte. Stunden brachten die Künstler jeden Tag über dem Zeichentisch im vatikanischen Garten zu, diskutierten Michelangelos Ideen, beratschlagten, wie den Problemen der Wölbung am sinnvollsten beizukommen sei und welche Motive geeignet wären, um in perspektivischer Verkürzung dargestellt dem Betrachter den Eindruck zu vermitteln, er stehe unter einer geraden Decke. Und jedes Mal, wenn man sich für einen der Spitzbögen auf ein Motiv oder eine Figur festgelegt hatte, konnte man sicher sein, dass Michelangelo am nächsten Tag mit einer Idee aufwarten würde, die alles Vorangegangene über den Haufen warf.
Aurelio schuftete derweil jeden Tag bis Sonnenuntergang in der sich unter dem Gewölbe stauenden Hitze. Durch das viele Wasser, das er zum Anrühren des Arriccio benötigte, verwandelte sich die Bühne bereits in den Vormittagsstunden in ein Dampfbad. Abends säuberte er die Werkzeuge, räumte die Bühne auf, zog sich sein durchgeschwitztes Arbeitshemd über den Kopf und verspürte eine seltsame Befriedigung. Sobald er anschließend dem ätzenden Gestank fauler Eier entronnen war, den Vatikan verlassen hatte und über den Petersplatz ging, wo die Marmorblöcke für Julius’ Grabmal im Abendlicht einen rosigen Schimmer annahmen, steigerte sich diese Befriedigung regelmäßig zu einem erfüllenden Glücksgefühl. Er schuf etwas. Etwas, das Bestand haben würde. Und sogar Jacopo, der sonst an allem etwas auszusetzen hatte, und Aristotele, der Aurelio als Einziger mit Argwohn begegnete, erkannten die Qualität seiner Arbeit an.
Als Aurelio schließlich in der zweiten Augustwoche bei sengender Hitze und mit schweißtropfendem Kinn das letzte Pendentif in Angriff nahm, mischte sich in die Freude darüber, rechtzeitig zu Maria Himmelfahrt die Arbeiten abgeschlossen zu haben, die Sorge, was ihn danach erwartete.
Unterdessen mussten die Vorbereitungen für die eigentlichen Arbeiten getroffen werden: welche Pinsel, welcher Sand und wie fein, was für Kalk, wie würde man die Übertragung der vorgezeichneten Kartons auf den Intonaco vornehmen? Granacci fuhr nach Florenz, um mit Proben unterschiedlicher Farbpigmente zurückzukehren. Er präsentierte sie, als handele es sich um Pulver, die ewiges Leben versprachen. Außerdem hatte er einen Brief
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