Der Sixtinische Himmel
werden. Deshalb habe ich Bastiano in die Schranken gewiesen. Er hat mir versichert, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt, doch ich will keine Feindseligkeiten in der Bottega, und sie werden nicht aufhören, wenn sich die Situation nicht ändert. Ich denke … Ich denke, du solltest …«
Aurelio besah sich das blutgetränkte Tuch. »… mit Maestro Buonarroti reden, ich weiß.«
* * *
Aus dem Dunkel über ihm drangen die Schritte seines Meisters zu Aurelio. Wieder eine dieser Nächte, in denen er schlaflos seine Kammer durchwanderte. Die Schritte waren Aurelio inzwischen ebenso vertraut wie das Zischen seiner Nase oder die immergleiche Bewegung, mit der er den Rötelstift anleckte. Er wusste bereits im Voraus, in welche Richtung sein Meister gehen, wie lange er in der Ecke verharren, wann der Balken knirschen und wann er quietschen würde.
Seit zwei Nächten quälte sich Aurelio mit der Frage, wie er Michelangelo gegenübertreten sollte. Wäre es um seine Arbeit gegangen, die Unterbringung oder die Bezahlung … Es wäre Aurelio unangenehm genug gewesen. Aber nicht unmöglich. Doch wie konnte er vor ihn treten und sich anmaßen, eine Änderung in seinem Verhalten zu verlangen? Und hieße das nicht, eine Änderung seiner Gefühle zu verlangen? War so etwas überhaupt möglich? Aurelio hatte Gefühle immer als etwas erlebt, das ihn änderte. Nicht umgekehrt. Doch was war die Alternative?
Piero Rosselli hatte deutlich gemacht, dass er die momentane Situation nicht länger zu dulden bereit war. Das bedeutete, es musste sich etwas ändern. Andernfalls würde Aurelios bloße Anwesenheit den Fortbestand der gesamten Bottega gefährden. Etwas, das er unmöglich zulassen konnte. Und das wiederum bedeutete: Er selbst würde die Werkstatt verlassen müssen. Piero Rosselli würde ihn ungern gehen sehen, doch letztlich würde er die Entscheidung begrüßen. Bastiano wäre froh, ihn los zu sein, Jacopo war es vermutlich gleichgültig, Giuliano würde sein Bedauern äußern. Agnolo war so sehr mit seiner Sorgfalt beschäftigt, dass er Aurelios Abwesenheit vermutlich gar nicht bemerken würde, und Granacci – nun, der würde ihm auf die Schulter klopfen und zum Abschied einen korsischen Wein empfehlen.
Bei dem Gedanken daran, die Bottega zu verlassen, schnürte sich Aurelio die Brust zusammen. Über ihm quietschte der Deckenbalken. Zwei Schritte noch, dann Pause. Lautlos stieg er aus dem Bett, schloss leise die Kammertür hinter sich und stieg die Stufen zu Michelangelos Kammer empor.
Zaghaft klopfte er an.
Nichts. Vier Schritte, ein Knirschen, Stille.
Aurelio holte Luft und klopfte erneut. »Maestro?«, flüsterte er.
Die Schritte näherten sich der Tür. »Wer ist da?«, drang die Stimme seines Meisters durch die geschlossene Tür.
Aurelio sah den Schatten seiner Füße unter dem Türspalt. »Aurelio.«
Schweigen. Michelangelos Schatten bewegte sich keinen Fingerbreit. »Geh ins Bett.«
»Ich muss mit Euch sprechen, Maestro. Bitte.«
Aurelio hörte, wie der Riegel angehoben wurde. Das Zischen von Michelangelos Nase. Sonst nichts. Endlich öffnete sich die Tür eine Handbreit.
Keiner der anderen hatte je Michelangelos Kammer betreten. Nicht einmal Granacci. Stattdessen kursierten Gerüchte. Guliano wollte von einem Laboratorium wissen, in dem Michelangelo nachts geheime Mixturen zusammenbraute und Pulver herstellte, die die Phantasie beflügelten. Jacopo hingegen vermutete hinter der stets verriegelten Tür ein prunkvolles Gemach, das mit golddurchwirkten Wandteppichen ausgekleidet war und dessen mit Seidentüchern verhülltes Bett selbst Chigi zufriedengestellt hätte. Nichts davon war der Fall. Michelangelos Kammer war ebenso kärglich eingerichtet wie der Rest des Hauses. Ein wackeliges Bett, ein kleiner Tisch mit einem schmucklosen Stuhl, ein alter Schrank mit einer Tür, deren Knarzen Aurelio wohlvertraut war.
Das einzig wahrhaft Überraschende war der Boden. Er war nicht zu sehen. Dutzende von Zeichnungen bedeckten ihn, vielleicht sogar Hunderte. Es war unmöglich, in die Kammer zu gehen, ohne die Blätter mit Füßen zu treten. Erst als Aurelio sich bückte, um einige von ihnen aus dem Weg zu räumen, begriff er, was er in Händen hielt. Das waren keine Propheten oder geflügelten Engel. Nichts davon hatte irgendetwas mit dem Entwurf für die Kapelle zu tun. Stattdessen war die Kammer gepflastert mit … Ungeheuern. Dämonische Fratzen streckten Aurelio pestverbeulte Zungen entgegen, Höhlen ohne
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