Der Sixtinische Himmel
stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. Seine Beine drohten ihren Dienst zu versagen. Jedes Wort strengte ihn an. »Was steht im Mittelpunkt der Schöpfungsgeschichte?«
»Der Mensch!«, rief Bastiano aus.
Michelangelo machte ein Gesicht, als wolle er sagen: Na bitte!
Das folgende Schweigen war erfüllt von Zweifeln und Staunen.
»Was ist mit der Perspektive?«, hörte Aurelio jemanden fragen, und erst als sich die Blicke der anderen auf ihn richteten, wurde ihm klar, dass er selbst es gewesen war.
Granacci griff sich mit beiden Händen an die Stirn: »Es gibt keine Zentralperspektive!«
Das Staunen und die Zweifel in den Gesichtern steigerten sich zu Unglauben und Fassungslosigkeit.
Michelangelo zog seine mageren Schultern hoch. »Nein«, bestätigte er, »die gibt es nicht.«
»Oha!«, entfuhr es Agnolo.
Bugiardini war konsterniert. Wann immer er glaubte, das Konzept verstanden zu haben, tauchte ein neuer Aspekt auf, der ihn überforderte: »Aber … das ist gegen jede Regel!«
»Es wird polyzentrisch sein«, bemühte sich Michelangelo zu erklären. »Jede Figur, jede einzelne Fläche wird ihre eigene Zentralperpektive haben.«
»Aber das bedeutet …«
»… es wird keinen Punkt geben, von dem aus der Betrachter das gesamte Fresko erfassen kann«, nahm Granacci Bugiardini den Satz ab.
Michelangelo klang unendlich müde. »Der Betrachter wird umhergehen müssen. Die Architektur des Entwurfs zwingt ihn dazu.«
»Nur, um sicherzugehen, dass ich auch alles verstanden habe«, Granacci rieb sich den Schweiß von den Schläfen und begann, an seinen Fingern abzuzählen. »Du möchtest das Gewölbe mit Dutzenden nackter Männer bevölkern; zu den ursprünglich vorgesehenen Propheten werden sich Sibyllen, die Vorfahren Christi, Ignudi und wer weiß was noch gesellen, mit anderen Worten: Alles, was sich um die Bildererzählung im Zentrum gruppiert, wird eher heidnischen als christlichen Charakter haben; auf Kreuze, geflügelte Engel und dergleichen wird vollständig verzichtet …«
»Um die kann sich Raffael kümmern«, warf Michelangelo ein.
»… und zu guter Letzt werden wir es mit einer – wie hast du es genannt – polyzentrischen Scheinarchitektur zu tun haben.« Er hatte aufgehört, seine Finger zu zählen, und rieb sich stattdessen erneut den Schweiß von den Schläfen. »Und das alles auf neuntausend Quadratfuß und ausgerechnet in der Kirche, in der der Papst gewählt wird.« Granacci ließ die Arme sinken und schüttelte den Kopf. »Das ist verrückt – du bist verrückt.«
»Spricht das gegen den Entwurf?«, fragte Michelangelo.
»Ihr wollt mit einem einzigen Fresko«, Sangallo sprach jedes Wort für sich aus, »die gesamten künstlerischen Konventionen der letzten hundert Jahre zum Einsturz bringen.«
»Ich will gar nichts zum Einsturz bringen«, sagte Michelangelo schwer atmend, »ich möchte nur dem, was existiert, etwas Neues hinzufügen. Und jetzt tut mir bitte endlich den Gefallen, vergesst für einen Moment die Konventionen und Julius und das Alte Testament und seht euch einfach nur den Entwurf an.«
Alle studierten ein weiteres Mal den Entwurf.
Am Ende war es Bastiano, der das Schweigen brach: »Revolutionär!«
»In jeder Hinsicht«, bestätigte Sangallo.
Granacci pfiff nur wieder durch die Zähne.
Agnolo war noch im Staunen gefangen. »So etwas hätte ich nie für möglich gehalten.«
Rosselli ging um den Tisch und klopfte Michelangelo auf die Schulter. Jeder sah, dass er sich nur mit Mühe davon abhalten konnte, ihn in die Arme zu schließen.
»Wenn dir das gelingt …« Rosselli versagte die Stimme.
Bugiardini hatte die Dimension des Entwurfs noch immer nicht erfasst, doch er fühlte, was da vor ihm lag: »Es würde für sich stehen«, überlegte er laut. »Gänzlich für sich …«
»Es wird Jahre dauern«, sagte Jacopo, »wenn es überhaupt gelingt.«
Agnolo konnte sich nur wiederholen: »Ich hätte so etwas nie für möglich gehalten.«
Sangallo enthielt sich einer Bewertung. Doch der Blick, den er seinem langjährigen Freund zuwarf, sprach ihm offene Bewunderung aus. Beinahe mitleidig legte er Michelangelo die Hand auf den Arm.
»Gesetzt den Fall, Ihr werdet Julius von diesem Entwurf überzeugen – was nicht geschehen wird –, habt Ihr eine Vorstellung davon, was das bedeutet?«
Michelangelo legte den Kopf schief, betrachtete den Entwurf und zwang sich zu einem Lächeln. »Arbeit.«
XXII
In dem halben Jahr, seit er nach Rom gekommen war,
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