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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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hatte Aurelio mehr gesehen als irgendjemand, den er in Forlì gekannt hatte, in seinem ganzen Leben. Er hatte erhabene Kirchen und prunkvolle Paläste gesehen, verschwiegene Innenhöfe, von Flüstern erfüllte Kreuzgänge, tosende Kolonnaden, schöne Frauen und reiche Männer. Allerdings auch aufgequollene Leichen, die sich in den angestauten Ästen vor den Brückenpfeilern des Ponte Sisto verfangen hatten. Einmal, auf dem Forum Romanum, wo sich nachts Wölfe herumtrieben und Wildschweine nach etwas Essbarem stöberten, war er Zeuge davon geworden, wie zwei Ratten den eiternden Beinstumpf eines an den Trümmern lehnenden Mannes abnagten, der noch am Leben war.
    Michelangelo hatte Aurelio vom Mythos des Phönix berichtet, dem rotgoldenen Vogel, der alle fünfhundert Jahre verbrannte, um sich verjüngt aus seiner eigenen Asche zu erheben. So erschien ihm die Ewige Stadt. Während das alte Rom in Schutt und Unrat versank, spross ein neues aus der Erde und berauschte sich an sich selbst. Im Stadtbild erkannte man diese Entwicklung am deutlichsten an den Palazzi. Entlang der neuerbauten Via Giulia, die in direkter Linie die beiden Tiberbrücken miteinander verband, schossen sie wie Pilze aus dem Boden. Aurelio hatte nicht weniger als neun Großbaustellen gezählt. Kaum überquerte man dann den Ponte Sisto und wagte sich nach Trastevere, wurde man von Bettlern belagert, bekam Arme entgegengestreckt, denen die Hände fehlten, wurde von zahnlosen Huren angeknurrt und sah dreibeinige Hunde durch die morastigen Gassen humpeln.
    Aurelio mochte die Palazzi nicht. Sie wirkten feindlich, als müsste man damit rechnen, jeden Moment von ihnen verschluckt oder erschlagen zu werden. Wie groß konnte eine Familie sein, dass sie ein solches Heim für sich beanspruchte? Der seit Jahrzehnten im Bau befindliche Palazzo Doria Pamphili zum Beispiel barg Höfe in seinem Inneren, die groß genug gewesen wären, um ganze Kirchen hineinzustellen. Und der Palazzo della Cancelleria füllte einen kompletten Straßenzug – eine Festung aus Travertin. Die gesamte Front war mit dem wundervoll weichen Stein verkleidet, den man zuvor vom Kolosseum gebrochen hatte. Auch das war etwas, das Aurelio nicht verstand: das Kolosseum. Konnte sich ein größeres und eindrucksvolleres Bauwerk überhaupt denken lassen? Jetzt stand es bis zu den Knöcheln im Dreck, die Arena war ein Kampfplatz für Katzen, Ratten und Füchse, und in den Bögen hausten Diebe, die nur darauf warteten, einen zu überfallen.
    Was den Palazzo della Cancelleria betraf: Das Geld dafür sollte Raffaele Riario in einer einzigen Nacht beim Glücksspiel gewonnen haben. Gut, es war Granacci gewesen, der Aurelio diese Geschichte erzählt hatte, und der neigte zu Übertreibungen. Doch Piero war dabei gewesen und hatte bestätigend mit dem Kopf genickt. Also schien es wahr zu sein. Ein Kardinal, beim Glücksspiel! Was würde Gott dazu sagen? Schließlich war Mäßigung eine der vier Kardinaltugenden und Habsucht eine Todsünde.
    Anders ging es Aurelio mit den Villen. Viele der reichen Familien, die sich in der Altstadt einen Palazzo bauen ließen, besaßen außerhalb des Zentrums eine zusätzliche Villa, in der sie die heißen Sommermonate verbrachten. Diese Villen waren oft sehr viel schlanker und feingliedriger als die kraftstrotzenden Palazzi. Am besten gefiel Aurelio die von Il Magnifico, dem Bankier, in der die berühmte Kurtisane Imperia ein und aus ging – von der Aurelio inzwischen wusste, dass sie eine herrschaftliche Villa an der Piazza Scossacavalli besaß, nur drei Straßen von Michelangelos ärmlichem Haus entfernt. Statt wie die Palazzi auf der anderen Tiberseite wollte Chigis Villa ihren Betrachter nicht in die Knie zwingen, sondern entzog sich seinen Blicken durch eine Mauer und war in Dimensionen gehalten, die, wie Michelangelo es nannte, das menschliche Maß respektierten.
    * * *
    Vor allem aber hatte Aurelio Kirchen gesehen. Bevor Michelangelo selbst ans Werk ging, wollte er jedes Fresko und jedes Gewölbe der Stadt inspiziert haben. »Ich muss wissen, worauf ich mich einlasse«, sagte er. Aurelio kam aus dem Staunen nicht heraus. In Rom schien es mehr Kirchen zu geben, als der Apfelbaum auf ihrem Hof in Forlì Früchte trug. Er bestaunte goldene Mosaiken und verschlungene Fußbodenintarsien; die Ketten, in die man Petrus geschlagen hatte; die Kapelle, in der man Neros kriegerischen Geist eingefangen hatte, der bis dahin in einem nahen Baum hauste. Und natürlich

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