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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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gesamte Haus wach.
    Schlaftrunken stolperte Aurelio aus der Kammer und lief Giuliano in die Arme, der noch verstörter und nachdenklicher wirkte als sonst.
    »Da solltest du besser nicht reingehen«, sagte er im Vorbeigehen und verschwand im Atelier.
    Die zweite Kammertür öffnete sich, und Piero trat heraus. Aus der Werkstatt eilte Agnolo herbei. Schließlich kamen Bastiano und Jacopo hinzu. Am Ende stand die gesamte Bottega barfüßig und im Nachthemd im Zimmer, und jeder blickte den anderen an.
    Als hätte Michelangelo gewartet, bis alle versammelt waren, öffnete sich die Tür. »Niemand kommt mir in die Küche«, verkündete er. Seine Haut war fahl, seine Augen blutunterlaufen. Er hatte weder gegessen noch getrunken, noch geschlafen. Die dünne Leinentunika hing ihm lose von den Schultern. Aurelio fürchtete, ihn jeden Moment auffangen zu müssen. »Wir treffen uns zur Mittagsstunde am großen Tisch.« Damit war der Tisch hinter der Kapelle gemeint. Er blinzelte aus verquollenen Augen. »Wo ist Francesco?«
    »Wo wohl?« Es war Jacopo, der antwortete.
    »Hm.« Michelangelo schien kaum einen klaren Gedanken fassen zu können. »Aristotele: Geh zu deinem Onkel und bitte ihn, ebenfalls zu kommen. Richte ihm aus, es sei wichtig. Zur Mittagsstunde. Am großen Tisch …« Er griff sich an die Stirn, wo seine von Kohle geschwärzten Finger den bereits zahlreichen Striemen zwei weitere hinzufügten. »Und treibt Francesco auf … Ich möchte, dass jeder von euch anwesend ist … Danke, Aristotele.« Mit diesen Worten verzog er sich wieder in der Küche und schloss die Tür.
    Aurelio und die anderen waren kein bisschen schlauer. Wortlos standen sie im Kreis und sahen sich an. Schließlich gingen sie nacheinander in ihre Kammern zurück und zogen sich an.
    * * *
    Die Mittagshitze saß Aurelio im Nacken wie ein glühendes Eisen. Unter seinem Hemd sammelte sich der Schweiß. Wie von Michelangelo verlangt, waren alle erschienen, auch Sangallo und Granacci. Sie standen um den Tisch und warteten darauf, dass einer von ihnen das Schweigen brechen würde. Die Schweißperlen auf Bugiardinis Stirn glitzerten wie Edelsteine. Vor ihm, auf dem Rand von Michelangelos Entwurf, sammelten sich bereits dunkle Punkte. Einmal hatte Granacci durch die Zähne gepfiffen. Zwei streitende Buchfinken jagten zwischen den Platanen hin und her und stießen nervöse Klicklaute aus. Doch niemand hatte bislang das Wort ergriffen. Giuliano da Sangallo holte tief Luft, nahm aber nur sein Barett ab und ließ es langsam durch die Finger kreisen. Immer wieder legte er den Kopf von der einen Seite auf die andere.
    Michelangelo blickte aus seinen noch immer geschwollenen Augen zwischen Granacci und Sangallo hin und her. Unter normalen Umständen hätte er seine Ungeduld niemals so lange bezähmen können, doch er war entweder zu erschöpft, oder es stand zu viel auf dem Spiel. Möglicherweise beides, ging es Aurelio durch den Kopf. Es kam ihm vor, als sei die Zeit letzte Nacht durch seinen Meister hindurchgegangen. Im senkrecht herabstürzenden Licht ähnelten Michelangelos zerfurchte Wangen und der wirre Bart eher dem Stamm und den Wurzeln einer Eiche als dem Gesicht eines Dreiunddreißigjährigen. Er wirkte, als würde er eine weitere Nacht dieser Art nicht überleben.
    Immer, wenn einer der Buchfinken glaubte, den anderen endgültig vertrieben zu haben, kehrte der zurück, und das Gezänk begann aufs Neue. Von Bramantes Großbaustelle drangen Rufe, die sich in das Klopfen von Hämmern und das Rattern eisenbeschlagener Wagenräder mischten.
    Sangallo wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Niemals wird Julius das akzeptieren.«
    Michelangelo reagierte nicht. Sangallos Einwand schien ihn nicht zu interessieren.
    »Also …«, unternahm der Architekt einen zweiten Versuch. »Ihr wollt … einen künstlichen Raum schaffen, indem Ihr das gesamte Gewölbe durch gemalte Marmorgesimse aufgliedert.«
    »Richtig«, antwortete Michelangelo.
    »Das bedeutet: Nicht Euer Entwurf passt sich den Proportionen der Kapelle an, sondern … Ihr zwingt der Kapelle Euren Willen auf.«
    Michelangelo ersparte sich eine Antwort. Es war offensichtlich, dass sich sein Entwurf über die architektonischen Vorgaben des Gewölbes erhob. Bis auf Bugiardini, der noch immer nicht erfasst hatte, was er vor sich sah, erwachten die anderen langsam aus ihrer Starre.
    »Das ist …« Agnolo suchte nach geeigneten Worten.
    »… großartig.« Es war Piero Rosselli, der den Satz

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