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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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einem auf Schritt und Tritt. In ihnen bewahrte die Stadt ihre Geschichte und ihre Geschichten auf. Doch konnten die Bildhauer noch weniger auf ein mildes Urteil des Meisters hoffen als die Freskanten. Selbst gelungene Arbeiten waren Michelangelo kaum einen Kommentar wert. Stets war es dasselbe: Er stellte Aurelio vor eine Statue, trat zurück und wartete so lange, bis Aurelio seine Eindrücke in Worte fasste. Und ganz gleich, wie dessen Urteil ausfiel, am Ende verzog Michelangelo die Mundwinkel, ließ ein »hm« hören und ging weiter. Aurelio wagte kaum noch, überhaupt etwas zu sagen.
    Schließlich führte Michelangelo ihn in den vorderen Teil der alten Petersbasilika, den Bramante noch nicht hatte abreißen lassen. Das Querhaus und die Apsis waren bereits dem Erdboden gleichgemacht worden, und so wirkte das dreigeteilte Kirchenschiff durch die fehlende Stirnseite seltsam verstümmelt. Ein endloser Zug aus Pferdekarren, Lastenträgern und Bauarbeitern stampfte durch das alte Gotteshaus wie über offenes Land. Alles war mit einer dicken Staubschicht überzogen und von Lärm erfüllt. Aurelio wollte gerade fragen, weshalb sein Meister ihn hierhergeführt hatte, als er sie entdeckte: eine Pietà aus weißem Marmor. Die Jungfrau Maria, sitzend, den toten Jesus auf den Knien. Sie stand zurückgezogen in einer noch intakten Kapelle, als suche sie dort Schutz. Unwillkürlich führte Aurelio eine Hand zum Mund.
    Im Gegensatz zu vielen anderen Statuen, die er gesehen hatte, war die Pietà in Lebensgröße gehalten, was sie unsagbar verletzlich und zart erscheinen ließ. Dennoch war kein Schmerz in Marias Gesicht, nur Anmut. Eine Anmut, die sich auf ein tiefempfundenes Wissen gründete. Sie hatte die Unvermeidbarkeit ihres Schicksals erkannt und es angenommen. Ihr Sohn, den sie auf dem Schoß hielt, war noch im Tod von einer unerklärlichen Sanftheit umgeben, sein Körper gebrochen, doch sein Geist stark.
    Aurelio wusste es in dem Moment, da sein Meister ihn fragte: »Sag mir, was du siehst.«
    »Ihr seid es gewesen, der sie erschaffen hat.«
    »Sag mir einfach, was du siehst.«
    Aurelio musste an Tommaso denken. Und an seine Mutter. Auch in Antonias Gesicht hatte er es gesehen, damals, als der Söldner mit der Narbe sie aus dem Haus geführt hatte – das Schicksal, in das sie sich gefügt hatte. Das Leben war so vergänglich. Angesichts dieser Statue jedoch schien es noch einmal um ein Vielfaches zerbrechlicher.
    »Woher habt Ihr die Idee genommen, Maria und ihren Sohn ausgerechnet in dieser Haltung darzustellen?«, wollte er wissen.
    »Eine Idee lässt sich nicht backen wie Brot«, erklärte Michelangelo und schwieg eine ganze Weile, bevor er fortfuhr: »Manche liegen morgens in ihrer fertigen Gestalt auf der Türschwelle, andere benötigten Monate, um zu reifen. Bei der Pietà habe ich zum ersten Mal erkannt, dass eine Idee zu sich selbst finden muss und dass die Pflicht des Künstlers darin besteht, sich in einen Zustand zu versetzen, der genau das ermöglicht. Alles, was ich zuvor gemacht habe, war ein Tasten im Nebel – der Kandelaberengel, den du als Kind so bewundert hast, eingeschlossen. Also: Was siehst du?«
    »Schönheit«, stammelte Aurelio.
    »Noch mehr?«
    Reinheit, dachte Aurelio, wagte aber nicht, es auszusprechen. Sein Pulsschlag stemmte sich gegen den Kragen. »Liebe«, brachte er schließlich hervor. Er schwebt, dachte er, Jesus schwebt. »Er ist so leicht, im Tod. Als wäre alle Last von ihm abgefallen.«
    Nachdenklich betrachtete Michelangelo sein eigenes Werk. Zehn Jahre lag es zurück, dass er die Jungfrau und ihren Sohn aus dem Marmor gehöhlt und den Stein in wochenlanger Arbeit poliert hatte. Vierundzwanzig war er damals gewesen. Bereits da hätte jeder Dummkopf erkennen müssen, dass seine Bestimmung der Marmor war.
    Schließlich tat er etwas, das er sich sonst nie gestattete. Er legte Aurelio väterlich den Arm um die Schulter. »Da ist mir ja ein rechter Schwärmer zugelaufen.«
    * * *
    In dieser Kirche, der alten, verstümmelten, von Tumult erfüllten Petersbasilika, hörte Aurelio auf, für seine Eltern zu beten. Er fühlte sich schuldig. Bis jetzt hatte er in jeder Kirche ein Gebet für Tommaso zurückgelassen. So dachte er. Bis er in Marias schuldloses Gesicht geblickt hatte und ihm klargeworden war, dass er weder für Tommasos Seelenheil noch für Antonias gebetet hatte, sondern für sein eigenes. Dass sein Vater Einlass ins Himmelreich erhalten hatte, daran hegte Aurelio keinen

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