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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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beendete.
    »Unglaublich«, flüsterte Bastiano. Es schien, als löse Michelangelos Entwurf für die Kapelle endgültig das Versprechen ein, das »die Schlacht von Cascina« ihm gegeben hatte.
    Sangallo sah seinen Freund fragend an. »Auf jeden Fall ist es meines Wissens noch nie versucht worden.«
    »Wenn es bereits versucht worden wäre, müsste ich es doch nicht machen«, sagte Michelangelo, als erkläre sich das von selbst.
    Von der Baustelle drangen erregte Rufe herüber. Offenbar war ein Arbeiter verletzt worden. Wie auf ein Signal lösten sich auch die Zungen der anderen.
    »Eins nach dem anderen«, sagte Granacci. »Also: Der Deckenspiegel soll in einzelne Felder aufgeteilt werden, eine Szenenfolge …«
    »Die Schöpfungsgeschichte«, präzisierte Michelangelo.
    »Gut, die Schöpfungsgeschichte. Eingeteilt in neun Szenen. Angefangen bei der Scheidung von Licht und Finsternis, bis …«, Granaccis Hand wanderte vom einen Ende des Entwurfs zum anderen, »zur Sintflut und der Trunkenheit Noahs.«
    »Was ist das?«, fragte Bastiano und deutete auf das dritte Feld von links.
    »Die Scheidung von Land und Meer«, antwortete Michelangelo.
    »Und das?« Agnolo deutete auf das danebenliegende Feld.
    »Die Erschaffung von Sonne, Mond und Pflanzen.«
    Da Sangallo ging in umgekehrter Reihenfolge die anderen Felder durch. »Noahs Opfer, der Sündenfall, in der Mitte die Erschaffung Evas und die Erschaffung Adams …«
    Michelangelo senkte sein Haupt. »In dem Moment, da Gott ihm die Seele einhaucht …«
    Aurelio blieb das Herz stehen: Adam, in dem Moment, da Gott ihm die Seele einhaucht? Er betrachtete die Skizze. Das Gesicht Adams war unverkennbar. Noch hatte es keiner bemerkt, weil alle von der Idee des Entwurfs in Anspruch genommen waren. Doch der nackte Adam, der im Zentrum des Freskos stehen sollte, war … er! Der Schweiß sammelte sich in Aurelios Nacken, kroch unter sein Hemd und lief in einem feinen Rinnsal den Rücken hinab.
    »Das ist großartig!«, hörte er Piero sagen.
    Selbst Jacopo war überwältigt: »Vollkommen neu.«
    »Was ist mit den Zwickeln?«, fragte Bugiardini. »Das hier sind die Propheten, aber wer sind die?«
    »Die Sibyllen, die das Christentum vorhergesagt haben«, antwortete Michelangelo.
    »Du meinst heidnische Prophetinnen?«
    »Nur ein dummer Christ würde sein heidnisches Erbe verleugnen«, entgegnete Michelangelo.
    Granacci runzelte die Stirn. »Gewagt.«
    »Sehr gewagt«, bestätigte da Sangallo.
    »Eine Provokation«, präzisierte Agnolo, dem der Entwurf langsam Angst einzuflößen schien.
    »Und die Figuren auf den Lünetten?«, fragte Bugiardini.
    »Die Vorfahren Christi«, gab Michelangelo Auskunft.
    »Die Vorfahren Christi?«
    Entschuldigend drehte Michelangelo die Handflächen nach oben.
    Bugiardini wuchs die Angelegenheit über den Kopf. »Aber die sind doch noch nie dargestellt worden!«
    Die Antwort Michelangelos war ein Schweigen.
    Auch Agnolo hatte Probleme, alle Informationen zu verdauen: »Wie viele Figuren sind das überhaupt?« Seine Frage klang wie ein Vorwurf. »Ursprünglich wollte Julius die zwölf Apostel. Dazu bekommt er jetzt die Schöpfungsgeschichte samt Sündenfall und dem trunkenen Noah, die Sibyllen, die Vorfahren Christi … Wie viele sind das – sechs mal so viele?«
    »Mit den Ignudi«, antwortete Michelangelo, »sollten es an die hundert werden, denke ich.«
    »Ignudi?«, fragten Jacobo und Bugiardini aus einem Mund.
    »Nackte Männer, ähnlich den Genien. Sie werden auf den Gesimsvorsprüngen sitzen. Durch sie wird das Fresko erst sein Leben, seine Vitalität erhalten. Das ist es, was ich anstrebe.« Er ballte die kraftlosen Hände zu Fäusten: »Ein Fresko, das vor Leben aus den Fugen platzt.«
    Genien, das wusste Aurelio, waren persönliche Schutzgötter, die die Römer bereits vor vielen Jahrhunderten von den Griechen übernommen hatten. Unter den reichen Familien in Rom war es üblich, sich Büsten dieser Genien anfertigen zu lassen. Bei verschiedenen Gelegenheiten hatte Michelangelo ihm solche Büsten bereits gezeigt – wenn sie gemeinsam durch die Stadt gegangen waren und sich der Blick in den Innenhof eines Palazzo oder einer Vigna geboten hatte.
    Erneut pfiff Granacci durch die Zähne. Anschließend kratzte er sich am Hals und bedachte seinen Freund mit einem bewundernden Kopfschütteln. »Ein Thema aus dem Alten Testament – die Schöpfungsgeschichte – und außerdem noch hundert überwiegend nackte Körper?«
    Michelangelo

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