Der Sixtinische Himmel
aus!«
»Aber ich brauche eine Arbeit.«
»Ach, Arbeit brauchst du! Die hab ich dir bereits besorgt! In Florenz, schon vergessen? Lorenzo Strozzi, der Wollweber? Das war Arbeit!«
Es folgte eine Pause, doch Giovan Simone ließ nicht locker. »Ich hab es ja versucht, Bruder, wirklich. Aber die Wollweberei ist nicht die richtige Arbeit für mich.«
»Dann sag mir, Bruder, welche Art von Arbeit wäre denn die richtige?«
So ging das Nacht für Nacht – bis Giovan Simone krank wurde. Ernstlich krank. Er bekam hohes Fieber. Am dritten Tag versteifte sich sein Nacken, ein alarmierendes Zeichen. Michelangelo machte sich Vorwürfe und schrieb seinem Vater nach Florenz, dass man sich um Giovan Simone sorgen müsse. Das Mitleid innerhalb der Bottega dagegen hielt sich stark in Grenzen.
»Giovan Simone ist der einzige Mensch«, erklärte Granacci, »der die Fähigkeit besitzt, aus Bequemlichkeit krank zu werden.«
Eine Woche dauerte das Fieber an, zwei weitere Wochen bewegte sich Giovan Simone kaum aus dem Bett. Alle hielten ihn längst für genesen, da raubte er mit seiner affektierten Husterei den anderen im Atelier noch immer die Nerven. Schließlich nahm Granacci seinen Freund beiseite und sagte ihm, dass sich etwas ändern müsse, wenn die Stimmung innerhalb der Bottega nicht engültig kippen sollte.
Am Abend trat Michelangelo vor das Bett seines Bruders. Die Bottega war vollständig anwesend. Jeder sollte es hören. Giovan Simone schien zu ahnen, was ihn erwartete. Er bekam einen nicht enden wollenden Hustenanfall.
Als es nichts mehr zu husten gab, sagte Michelangelo: »Ich habe dir Geld nach Florenz überwiesen. Unvernünftig viel Geld. Mehr, als gut für dich ist. Ich kann nicht zulassen, dass du weiterhin den Zusammenhalt dieser Bottega gefährdest. Und ich kann dir keine Stellung besorgen, Giovan Simone. Selbst, wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun. Werde gesund, und fahre nach Florenz zurück.«
Am nächsten Morgen packte Giovan Simone seine Sachen und verließ Rom. Es ging ihm deutlich besser.
* * *
Vor drei Tagen hatte ein von Nordwesten kommender Nebel über Nacht lautlos die Stadt eingenommen und seither nicht wieder freigegeben. Selbst an ihrem höchsten Punkt war die Sonne nicht mehr als ein weißlicher Fleck auf einem frisch mit Intonaco verputzten Gewölbe. Feuchte Luft zog durch die Ritzen der Häuser. Der Wehrgang der Sixtinischen Kapelle war vollständig verhüllt. Heute ließ die Morgensonne erstmals einzelne Schwaden als trübe Lichtschleier durch die Gassen wabern.
Michelangelo betrachtete das vor ihm liegende Brot und das eingetrocknete Stück Caciocavallo, als wolle Aurelio ihn vergiften.
»Ihr müsst essen«, sagte Aurelio streng.
Nur mit Mühe war sein Meister die Stufen aus dem Obergeschoss herabgestiegen, den zusammengerollten Karton für die heutige Giornata in der Hand.
»Schließ die Läden, Aurelio«, sagte er.
Aurelio entzündete eine Kerze, ging ans Fenster, schloss die Läden und setzte sich weder zu Michelangelo an den Tisch. Im Licht der Kerze wirkte sein Meister ausgezehrter denn je. Die Augen hatten sich in ihre Höhlen zurückgezogen. Eine fahle Hand strich nervös über die Tischplatte.
So ging das seit dem Tag, da sie die Arbeit am Fresko aufgenommen hatten. Tagsüber brachte Michelangelo bis zur völligen Erschöpfung die Farben in den Putz ein, den Arm über Kopf gestreckt, den Nacken verrenkt, den Oberkörper unnatürlich nach hinten gebogen. Und als sei das noch nicht genug, musste er dabei stets gegen den Intonaco arbeiten, der ihm unter den Händen wegtrocknete, jede nachträgliche Änderung verweigerte und jeden misslungenen Pinselstrich für immer in sich einschloss. In den vergangenen Tagen hatte Bugiardini, der immer dankbar war, wenn ihm jemand eine Aufgabe zuwies, Michelangelo häufiger als Stütze gedient, hatte sich, den Oberkörper leicht vorgebeugt, hinter ihn gestellt und es so Michelangelo ermöglicht, sich wenigstens für die Dauer einiger Pinselstriche anzulehnen.
Kaum hatten sie dann zu Abend gegessen und waren die Mitglieder der Bottega erschöpft in ihre Betten gefallen, begann Michelangelo, in seiner Kammer umherzugehen und den Karton für den folgenden Tag auszuarbeiten. Das dauerte nicht selten bis in die frühen Morgenstunden. Bei Tagesanbruch kam er die Stufen herab, drückte Bastiano den Karton in die Hand und schickte die Bottega in die Kapelle vor, um den Karton zu perforieren, den Intonaco aufzubringen und die Zeichnung mit
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