Der Sixtinische Himmel
Saft schwarzer Galle gelöschter Ätzkalk, der sich ausschließlich gegen ihn selbst richtete. Wie zu erwarten, verweigerte er jedes Essen. Aurelio beeilte sich, ihn zu stützen, als er die Stufen zu seiner Kammer emporstieg.
»Schließ die Tür«, bat Michelangelo, nachdem sein Gehilfe ihn in die Kammer geleitet, ihm die Stiefel ausgezogen, ihn von den gröbsten Brocken des Freskos befreit und ins Bett gesteckt hatte. »Von innen.«
Aurelio nahm sich den Schemel, schob die auf dem Boden liegenden Zeichnungen zusammen und setzte sich zu Michelangelo ans Bett. Er konnte zusehen, wie die Kraft aus seinem Meister wich. Seine Erschöpfung war übermächtig. Heute Nacht würde er schlafen, wenn auch unglücklich. Vor Ermüdung flatterten Michelangelos Augenlider, kurz darauf waren sie fest geschlossen. Er begann erst zu sprechen, als Aurelio glaubte, er sei bereits eingeschlafen.
»Es ist ein Strafe, Aurelio. Gott straft mich.« Seine Stimme klang wie ausgehöhlt. »Und ich weiß nicht einmal, wofür.« Das Schlucken strengte ihn so sehr an, dass er dabei das Gesicht verzog. »Ist meine Demut nicht groß genug? Habe ich nicht genug gelitten? Ist es nicht genug … Was immer ich erstrebe: Es ist immer zu viel und doch nie genug.«
Er öffnete die Augen, ließ seinen Kopf auf die Seite fallen und betrachtete seinen Gehilfen. Aurelio kannte diesen Blick – und fürchtete ihn. Er war die Tür zur vielleicht dunkelsten Kammer von Michelangelos Seele, und Aurelio war es, der sie aufstieß. Es war ein Teufelskreis. Aurelios Anblick salbte Michelangelo, zugleich infizierte er ihn mit einer quälenden Sehnsucht. Er war seinem Meister Gift und Gegengift zugleich.
»Ist das nicht verrückt?«, fuhr Michelangelo fort. »Ich nähre mich von dem, was mich zerstört.«
Nach diesen Worten schlief er ein.
XXVII
Nicht einmal Sangallo wusste, worin der Fehler lag. Jeder Erklärungsversuch war ein Stochern im Nebel. Vielleicht war das das Schlimmste. Es konnte alles sein: die Decke, die Feuchtigkeit, der Kalk, die Asche, die Mauern, die Fenster … Sie würden das Fresko einfach noch einmal von vorne beginnen und darauf hoffen müssen, dass es beim zweiten Mal gelang. Doch warum sollte es? Keiner glaubte mehr so richtig daran. Das war das eigentlich Tragische: Ihr Glauben war erschüttert.
In der Nacht wurde Michelangelo von einem plötzlichen Fieber befallen. Innerhalb weniger Stunden brannte sein Körper aus. Aurelio wagte nicht, ihn auch nur einen Augenblick allein zu lassen. Als könne seine bloße Anwesenheit Schlimmeres verhüten. Im Licht der Kerze schlängelte sich die Wärme, die von seinem Meister aufstieg, als Schatten über die Wand. Ein Schatten, der sichtbar machte, was mit bloßem Auge nicht zu erkennen war. Immer wieder wischte Aurelio dem wie tot daliegenden Michelangelo die Schweißperlen von Stirn und Oberlippe, während das Fieber ihn verzehrte und als leere Hülle zurückließ.
Am nächsten Tag, gegen Mittag, erschien ein Sekretär des Papstes. Granacci ärgerte sich, nicht vorbereitet zu sein. Sie hätten sich denken müssen, dass die Schimmelbildung am Gewölbe jemandem wie de’ Grassi nicht verborgen bleiben würde – selbst wenn er nicht wagte, die Leiter zur Bühne zu erklimmen. Michelangelo wollte den Abgesandten nicht in seiner Kammer empfangen, doch es war ihm unmöglich aufzustehen. Also blieb ihm keine andere Wahl. Der Mann aus dem Vatikan, dessen Finger unter Goldringen verschwanden und der seinen pelzgefütterten Kapuzenumhang lässig über die Schultern geschwungen hatte, rümpfte ungläugbig die Nase, als er sich in der vor Krankheit erstarrten Kammer umsah. So lebte des Papstes hochgeschätzter Künstler? Er lehnte den herbeigetragenen Stuhl ab und hätte gerne mehr Abstand zum Bett eingenommen, als es die niedrige Kammer zuließ.
Der Heilige Vater sei in Sorge, so der Sekretär. Man habe vernommen, dass der Malermeister Buonarroti, der sich vertraglich an den Vatikan gebunden habe, seine Arbeiten an der Sixtinischen Kapelle abgebrochen …
»Ich bin Bildhauer!«, stieß Michelangelo hervor.
… die von ihm vertraglich zugesicherten Aufgaben abgebrochen habe.
Raffaels Arbeiten in den päpstlichen Privatgemächern gingen zügig voran und ließen Großes erwarten, sehr Großes. Sollte Michelangelo also tatsächlich vor seiner Aufgabe kapitulieren, müsse sich der Heilige Vater wohl mit den Fresken in seinen Gemächern trösten. So ging es weiter. Einerlei ob Bildhauer oder Maler, es
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