Der Sixtinische Himmel
und einige Flüchtende – war das gesamte Fresko befallen. Michelangelos Arbeit zerstörte sich selbst, der Putz zerfraß die Farben, der Intonaco verfaulte von innen heraus, als habe er die Pest.
Michelangelo saß auf der Arbeitsbühne und betrachtete das Desaster im milchigen Licht des anbrechenden Tages. Der Anblick hatte ihm buchstäblich die Beine weggezogen. Die anderen standen herum wie Krieger nach einer verlorenen Schlacht. Keiner wusste Rat.
»Warum?«, fragte Michelangelo in die Runde.
Als Antwort bekam er hochgezogene Schultern und nach oben gedrehte Handflächen zu sehen.
»Piero?«
»Es ist mir ein Rätsel«, gestand Rosselli und drehte den Kopf zur Decke. »Du kennst mich. Ich habe exakt nach Vorschrift gearbeitet.« Er ließ die Arme sinken. »Ich weiß nicht, wo der Fehler liegt. Klar ist nur, dass zu viel Feuchtigkeit im Intonaco eingeschlossen ist. Als würde sie von oben durch die Decke dringen.«
»Ist das eine mögliche Ursache?«
Rosselli schüttelte den Kopf. »Nein. Der Arriccio ist trocken wie Reisig. Ich verstehe es nicht.«
»Bastiano?«
»Ja, Maestro?« Außer Aurelio war er der Einzige, der Michelangelo mit Maestro anredete.
»Geh und bitte deinen Onkel zu kommen. Vielleicht kann er uns helfen.«
Als Giuliano da Sangallo gut eine Stunde später die Sprossen zur Arbeitsbühne hinaufstieg, bemerkte Michelangelo ihn nicht einmal. Er saß unverändert und war tief in Gedanken versunken. Die anderen hatten inzwischen die Bühne aufgeräumt und gefegt. Etwas anderes gab es nicht zu tun. Unbeabsichtigt verstärkte das Ergebnis die Trostlosigkeit noch. Der Arbeitsplatz der Bottega, der wochenlang nach Aufbruch gerochen und eine emsige Atmosphäre verströmt hatte, wirkte, als habe er kapituliert. Was noch brauchbar sein würde, stand gut verschnürt in einer Reihe und erwartete seinen Abtransport.
Sangallos Urteil schien das Schicksal des Freskos endgültig zu besiegeln. »Es ist nicht zu retten«, sagte er nach eingehender Prüfung.
Michelangelo antwortete nicht.
»Das bedeutet«, fuhr Sangallo fort, »Ihr werdet es abschlagen müssen, alles, bis auf den Mann mit dem Kind.«
»Ich weiß, was das bedeutet.« Es waren die ersten Worte des Bildhauers, seit er Bastiano losgeschickt hatte, um seinen Onkel zu holen.
Sangallos Befund schien alle Mitglieder der Bottega zwei Fingerbreit in die Bühne einsinken zu lassen. Die Arbeit von zwei Monaten, vierunddreißig Tagewerke. Alles vergebens. Lediglich der Mann mit dem Kind auf dem Arm würde übrig bleiben. Als wären ihm und Michelangelo dasselbe Schicksal bestimmt: Welche Anstrengungen sie auch immer unternahmen, am Ende würden sie untergehen.
Auf die Idee, Aurelio zu befragen, kam niemand.
»Runter«, Michelangelo kam auf die Beine, »alle! Runter von der Bühne! Lasst mich allein und vergesst nicht, die Tür hinter euch zu schließen. Los!«
Sangallo ging als Erster, Aurelio als Letzter. Kaum hatte er festen Boden unter den Füßen, erfüllte ein dunkles Brüllen das Gewölbe.
»Maestro?«, rief Aurelio besorgt.
»Schließ die Tür, Aurelio! Von außen!«
Aurelio eilte dem Ausgang entgegen. Noch bevor er ihn erreicht hatte, hörte er, wie sich die Spitze eines Hammers in das Fresko bohrte.
* * *
Bis auf Rosselli, Aurelio und Bugiardini waren alle Mitglieder der Bottega ausgeflogen. Niemand wollte miterleben, wie Michelangelo nach diesem Tag nach Hause kam. Granacci würde sich erst mit korsischem Wein und anschließend mit der sardischen Kurtisane trösten, die er neuerdings regelmäßig aufsuchte. Tedesco, Bastiano und sogar Agnolo, der sonst um Tavernen einen großen Bogen machte, beschlossen, nach Trastevere hinunterzugehen, um das Fresko »in Wein zu ertränken«, wie Tedesco sagte. Und damit Beato nicht schutzlos dem Zorn Michelangelos ausgesetzt wäre, nahmen sie den Fattorino kurzerhand mit. Rosselli zog sich in die Küche zurück und kochte, wie immer, wenn ihm etwas wirklich zu schaffen machte. Bugiardini ging früh zu Bett.
Wie sich herausstellte, hätten sie Michelangelos Zorn nicht fürchten müssen. Bis der Bildhauer den Riegel löste und die Haustür aufdrückte – die Sonne war längst untergegangen und der Passetto von Fackeln erleuchtet –, war sämtlicher Zorn aus ihm gewichen. Einen halben Tag hatte er benötigt, um die Arbeit der Bottega von zwei Monaten zu zerstören. All sein Zorn hatte sich in der Kapelle entladen. Was jetzt noch blieb, war eine unaussprechliche Niedergeschlagenheit, ein im
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