Der Sixtinische Himmel
Kohlestaub auf den Putz zu übertragen. War das geschehen, wurde Aurelio losgeschickt, um den Meister zu holen. Stets fand er ihn in der Küche vor, in einem ohnmachtsähnlichen Schlaf, sitzend, die Arme auf der Tischplatte gekreuzt, den Kopf auf die Arme gelegt, den Teller von sich weggeschoben. Nicht selten waren diese zwei Stunden die einzigen, in denen Michelangelo zuließ, dass der Schlaf die Oberhand über ihn gewann.
»Ihr müsst essen«, wiederholte Aurelio, »und schlafen.«
Heute war er gar nicht erst mit in die Kapelle gegangen. Michelangelos Zustand erlaubte es nicht, ihn allein zu lassen. Piero würde den Intonaco alleine anrühren und auftragen.
Michelangelo nahm das Brot, drehte es im Kerzenlicht hin und her und legte es auf das Brett zurück. »Es geht zu langsam.« Er schob das Brett von sich weg. »Bei dem Tempo erlebe ich noch meinen eigenen Tod da oben. Ich werde sterben mit einem Pinsel in der Hand.«
Gestern hatten sie die Sintflut fertiggestellt, endlich. Doch ein Anlass zum Feiern war ihnen das nicht gewesen. Vierunddreißig Giornate, nahezu zwei Monate Arbeit – für das erste von neun Paneelen, die insgesamt nur ein Drittel der Gesamtfläche ausmachten. Und die dunklen Monate lagen noch vor ihnen. Michelangelo hatte recht. Es ging zu langsam. Aber was sollten sie tun? Wenn er so weitermachte, würde bald gar nichts mehr gehen.
»Ihr müsst schlafen«, wiederholte Aurelio, »und Ihr müsst essen.« Nur die Sorge um seinen Meister gab ihm den Mut, so mit ihm zu sprechen. Er hielt ihm den Käse hin. »Ihr wart es, der mir gesagt hat, man solle alles in Maßen tun. Das hätten bereits die Griechen gewusst. In Eurer Arbeit aber seid Ihr selbst maßlos.« Da Michelangelo beim Anblick des Käses nur angewidert die Mundwinkel verzog, legte Aurelio ihn an seinen Platz zurück. »Ebenso wie in Eurer Weigerung, Essen zu Euch zu nehmen«, ergänzte er.
»Was meine Arbeit betrifft: Das ist etwas völlig anderes.« Michelangelo verscheuchte die Worte seines Gehilfen mit einer matten Handbewegung. »Ich lebe durch meine Arbeit, Aurelio. An dem Tag, an dem ich aufhöre zu arbeiten, höre ich auf zu existieren. Der Zweck meines Daseins ist meine Arbeit.«
»Und was ist mit dem Rest? Eure Freunde, Eure Familie …« Aurelio biss sich auf die Lippe. In Michelangelos Gegenwart seine Familie zu erwähnen war stets ein sensibles Unterfangen. Doch seit sein Bruder Giovan Simone ihn in Rom aufgesucht hatte, galt es, das Thema unbedingt zu vermeiden. Es konnte seinen Zustand nur verschlimmern.
»Meine Familie, lieber Aurelio, ist ein fortwährendes Ärgernis, das mich am Arbeiten hindert. Mein Leben besteht aus Arbeit und Ärger, und manchmal weiß ich nicht, was mich mehr quält.«
Michelangelo beugte sich über den Tisch, stützte sich auf die Hände und stand von seinem Schemel auf. Aurelio hatte ihn überzeugen können, sich noch einmal ins Bett zu legen, wenigstens für zwei Stunden. Er würde ihn rechtzeitig wecken. Doch dazu kam es nicht. In dem Moment, da sich Michelangelos Hände vom Tisch lösten, wurde die Haustür aufgestoßen. Der Bildhauer und sein Gehilfe hatten kaum Gelegenheit, sich einen fragenden Blick zuzuwerfen, da standen auch schon Rosselli und Granacci in der Küche. Sie sahen aus, als hätten sie in der Sixtinischen Kapelle das Jüngste Gericht erblickt. Keiner brachte ein Wort hervor. Einer der Männer ist vom Gerüst gestürzt, dachte Aurelio unwillkürlich. Er sah Bastiano, wie er mit zerschmettertem Schädel auf dem Boden der Kapelle lag, während sich sein Blut über das Steinmosaik ergoss.
» Caro fratello «, setzte Rosselli an, doch statt fortzufahren, schlug er nur die Hände vors Gesicht.
»Da Ihr Euch so sehr beeilt habt, mir eine Nachricht zu überbringen, erscheint es wenig sinnvoll, sie ausgerechnet jetzt für Euch zu behalten«, sagte Michelangelo müde. »Granacci?«
Der Angesprochene blickte seinen Freund aus traurigen Augen an. »Schimmel.«
Langsam, sehr langsam, legte Michelangelo seine Hände zurück auf den Tisch. »Viel?«
»Fast alles«, gestand Granacci.
Michelangelos Kopf sank auf die Brust. »Gott stehe mir bei«, sagte er. Dann lief er aus dem Haus.
Aurelio suchte eilig die Schuhe und den Umhang seines Meisters zusammen.
Rosselli hatte sich nicht vom Fleck gerührt. »Ich verstehe das nicht«, sagte er und starrte auf seine Hände, als seien sie ihm eine Erklärung schuldig.
Bis auf die ersten drei oder vier Giornate – den Mann mit dem Kind
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