Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
einen objektiven soziologischen Kulturvergleich noch um eine orientalistische Projektion. Vielmehr behandelt Montesquieu das Problem, was es heißt, »in« einer Kultur zu leben, diese zu verlassen und sich einer fremden Kultur als Teilnehmer oder als Beobachter zu nähern. Montesquieu folgt einer Devise des englischen Philosophen Shaftesbury, dass gerade ernste Gegenstände oft eine leichte Form der Darstellung nahelegen, und wählt die Form des fiktiven literarischen Reiseberichts – ein Genre, das seit dem 18. Jahrhundert besonders gern verwendet wurde,um sich von fernen Fremden wie auch von der eigenen Gesellschaft ein neues Bild zu machen.
Für unsere Zwecke soll es genügen, auf drei wiederkehrende Themen in den Persischen Briefen hinzuweisen: (1) das Thema der Kontaktzonen zwischen Fremden, die in einem Zeitalter des weltweiten Handels und Gedankenaustauschs unvermeidlich sind; (2) das Thema des Gegensatzes zwischen freiwilliger Assimilation der Zugereisten an die Aufnahmegesellschaft und einem selbstgewählten Außenseitertum; und (3) das Thema der liberalisierenden und produktiven Rolle der Frauen in der Öffentlichkeit. Ich werde diese drei Punkte nacheinander kommentieren.
1. Montesquieu glaubt an die Determiniertheit des Körpers durch Klima und andere Einflüsse, aber ebenso an die Möglichkeit des menschlichen Geistes, sich von der Bestimmung durch externe Einflüsse zu lösen. Tatsächlich kommt es zum Kontakt von Usbek und Rica mit der französischen Kultur dadurch, dass die beiden ihr Land nicht aus Not, sondern allein »aus Wissensdurst« (I, 13) verlassen. Dieser Wissensdurst hatte Usbek, der zu den Privilegierten seiner Heimatstadt Isfahan gehört, vor seiner Reise einigen Ärger eingebracht, weil er den heimischen Verhältnissen kritisch gegenüberstand und ihnen auf den Grund gehen wollte: »Ich brachte die Wahrheit bis an die Stufen des Thrones und redete dort in einer bis dahin unbekannten Sprache« (XIII, 22). Genau genommen ging es ihm jedoch keineswegs von Anfang an allein um die objektive Wahrheit. Vielmehr litt Usbek an der moralischen Verdorbenheit seines Landes und täuschte seine soziologischen Erkenntnisinteressen nur vor, bis sie ihn schließlich tatsächlich beherrschten. »Ich schob eine große Neigung für die Wissenschaft vor, und je mehr ich dies tat, umso mehr entwickelte sie sich wirklich« (ebd.). Usbek ist folglich ein tugendhafter Außenseiter und Kritiker seiner eigenen Kultur, bevor er in eine andere Kultur eintaucht, der er ebenfalls fremd und kritisch gegenübersteht. Montesquieu selbst spricht übrigens nicht von Kultur, sondern, in Gestalt Ricas, von den »Sitten und Gewohnheiten [ mœurs et manières ] der Europäer« (XXIV, 50), denen die Neugierde der Reisenden gilt. Diese Sitten und Gewohnheiten sind von Land zu Land »sehr verschieden« (ebd.: 53). Montesquieu interessiert sich hier wie auch in seinen anderen Werken für die Quellen und den Charakter dieser irreduziblen Verschiedenheit sowie für mögliche Formen des Umgangs mit ihr angesichts einer sozialen Welt, in der Kontakte zwischen kulturell Fremden unvermeidlich sind.
Warum sind Kontaktzonen unvermeidlich? Usbek gibt darauf die folgende philosophische Antwort:
»Die Erde unterliegt wie die anderen Planeten den Gesetzen der Bewegung. In ihrem Inneren vollzieht sich ein ständiger Kampf ihrer Grundkräfte; denn das Meer und der Kontinent scheinen in einem ewigen Krieg zu liegen, und in jedem Augenblick entstehen neue Verbindungen. Die Menschen befinden sich auf einem derart den Veränderungen unterworfenen Wohnsitz in einer ebenso unsicheren Lage.« (CXIII, 208)
Natur und Gesellschaft sind so eingerichtet, dass jegliche Heimat prekär ist. In einer unsicher gewordenen Welt sind daher »neue Verbindungen« unvermeidlich, auch wenn der menschliche Geist frei ist, diese Verbindungen auf unterschiedliche Weise zu betrachten und zu gestalten. Insbesondere ist der Geist frei oder kann dazu erzogen werden, die Perspektive von anderen auf die eigenen Sitten und Umgangsformen zu übernehmen und dadurch diese zu modifizieren oder in einem anderen Licht zu sehen. Wo dies nicht gelingt, drohen zwei Konsequenzen. Eine Konsequenz liegt in dem, was Sigmund Freud später als Narzissmus der kleinen Unterschiede beschreibt. Muslime und Christen sind womöglich nur »abtrünnige Juden«, sinniert Usbek, was nichts daran ändere, dass im Feld der Religionen »die nächsten Verwandten die schlimmsten Feinde« seien (LX,
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