Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Thema der Möglichkeiten, die sich aus dem Prozess der sozialen und kulturellen Vermischung für Einwanderer wie auch für die herrschenden Schichten derGastgesellschaften ergeben. Dabei schlägt Mann einen für seine Zeit durchaus optimistischen Ton an.
Neben interkultureller Vermischung geht es in dem Roman aber noch um etwas anderes, nämlich um Assimilation. Vermischung ist richtungslos. Jede Zugabe zu einem Teig verändert den Gesamtcharakter des Gemischs gemäß den unwechselbaren Eigenschaften der jeweiligen Zutat. Assimilation dagegen ist die freiwillige oder erzwungene Übernahme der dominanten kulturellen Denk- und Verhaltensmuster der Gastgesellschaft durch Neuankömmlinge. Im Zuge dieser Übernahme verschwinden die mitgebrachten Eigenschaften und Präferenzen der Fremden oder fallen doch zumindest am Ende des Prozesses deutlich weniger ins Gewicht als die Eigenschaften und Präferenzen der Einheimischen. Nicht jede Zutat zählt hier gleich viel. Thomas Manns literarische Verarbeitung der Josephsgeschichte aus dem Buch Genesis schildert einen solchen Prozess der autonomen, selbstgesteuerten Integration und des sozialen Aufstiegs eines Fremden innerhalb einer relativ offenen Gesellschaft, die Anpassung nicht zentral verordnet.
Tatsächlich fängt Joseph in Ägypten ganz unten an, als ein rechtloser jüdischer Sklave und »aufgelesener Asiatenjunge« (ebd.: 295), der ein bisschen aussieht wie ein Beduine und zunächst wenig Anerkennung durch die Einheimischen erfährt. Dies ändert sich in dem Maße, in dem der junge Mann zügig vom Allerweltssklaven zum Leibdiener und Kämmerer seines Herrscherhauses und später noch weiter aufsteigt. Der Aufstieg erleichtert die kulturelle Selbstanpassung Josephs, die sich ihrerseits karriereförderlich auswirkt. Am Ende dieses Prozesses ist Joseph »mit Erlaubnis Gottes in allen seinen Gewohnheiten und seinem ganzen Gebaren nach völlig zum Ägypter geworden« (ebd.: 173). Der andersgläubige Ausländer wird nicht nur mehrsprachig und akzeptiert ägyptische Kleidungssitten, Essgewohnheiten, einen landesüblichen Haarschnitt und einen neuen Namen. Er übernimmt auch die negativen Stereotype seiner neuen Landsleute über die eigene Herkunftsregion, die ihm jetzt manchmal barbarisch vorkommt. Die Folge dieser Metamorphose ist, dass er keinen Grund mehr sieht, von den »Kommunikationsmöglichkeiten« (ebd.: 295) zwischen Ägypten und seiner Heimat in Palästina Gebrauch zu machen und den Kontakt zu seinen jüdischen Verwandten zu pflegen. Irgendwann erreicht die Vermischung sogar die Erinnerung Josephs. Als ihm einmal das mahnende Bild seines Vaters Jakob erschien, so heißt es an einer Stelle bei Thomas Mann, »vermischten« (ebd.: 594) sich darin die Züge des alten Mannes mit denen eines verehrten ägyptischen Vorgesetzten.
Daraus ergibt sich zunächst der Schluss, dass Joseph im strengen Sinne gar kein diasporischer Jude ist, denn der Begriff der Diaspora bedeutet nicht nur, dass es Menschen in fremde Länder verschlägt, sondern auch, dass sie die Beziehungen zu ihrer realen oder imaginären Heimat pflegen und sich im Gastland für dessen Belange einsetzen. Gerade daran scheint Joseph, der die vorhandenen Kommunikationswege zwischen den Ländern nicht nutzt, überhaupt nicht zu denken. Weiterhin liegt der Schluss nahe, dass Joseph einen Prozess der vollständigen Ersetzung seiner alten durch eine neue Identität durchläuft. Soziologen sprechen in einem solchen Fall von einer »substitutiven« im Unterschied zu einer bloß »additiven« Akkulturation, bei der neue Eigenschaften, Fertigkeiten und Vorlieben zu den älteren hinzutreten, ohne sie zu ersetzen (Yinger 1994: 72–75). Gegen die Deutung einer substitutiven Akkulturation sprechen jedoch bestimmte Hinweise in der Josephsgeschichte. Wir haben bereits gehört, dass Joseph »mit Erlaubnis Gottes« zu einem Ägypter mit transkulturellem Hintergrund geworden ist, das heißt aber: mit der Erlaubnis eines Gottes, an den nur er, nicht aber die anderen Ägypter glauben. Joseph hat Anteil an einem Kollektivbewusstsein, das die Basis einer primordialen, durch keinerlei Assimilation ersetzbaren Identitätsschicht bildet. In Thomas Manns pathetischer Sprache klingt das so: »Joseph besaß außerpersönliche Erinnerungen daran, wie wenig die Ehrenannahmen der Sitte, die gesellschaftliche Übereinkunft, auszurichten vermögen gegen das dunkle und schweigende Ehrgewissen der Tiefe, das sich nicht betrügen läßt von den
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