Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
114). Die andere Konsequenz der Absolutsetzung des Eigenen ist die Gefahr des Völkermords: »Ich zittere immer bei dem Gedanken«, so Montesquieu in einer fast hellseherischen Formulierung, »daß man schließlich zu der Entdeckung eines Geheimnisses gelangt, das es ermöglicht, die Menschen auf noch kürzerem Wege zu vernichten und ganze Völker und Nationen zu zerstören« (CV, 194).
2. Ein weiteres Thema kann man umschreiben mit den Stichworten Assimilation und Distanz. Schon bei Montesquieu gibt es dieselbe Spannung von Universalismus und Partikularismus, die bis heute das politische und moralische Denken prägt. »Das Herz hat sein Bürgerrecht in allen Ländern« (LXVII, 126), die sich doch gleichzeitig erkennbar voneinander unterscheiden. Dass die Sitten und Gewohnheiten der Menschen ebenso wie ihre Gesetze »sehr verschieden« sind, heißt nicht, dass sie nicht gelernt und von Fremden übernommen werden können. Vor allem heißt es nicht, dass die einander fremden Subjekte nicht aufeinander neugierig sein können. Der Wissensdurst, der die Perser in den Westen lockt, ist auch den Westlern selbst eigen. Montesquieu schildert eine Gesellschaft, in der die Subjekte noch Interesse haben an »neuen Exemplaren der Menschheit«, wie es Hannah Arendt einmal im Anschluss an Herder ausgedrückt hat (Arendt 1986: 112, 150). So wird der Migrant Rica in Paris bestaunt wie »ein Abgesandter des Himmels«. Tausend Blicke scheinen ständig auf ihm zu ruhen, was demFremden durchaus eine »Ehre« ist, obwohl diese Anerkennung irgendwann auch zu einer »Last« wird (Montesquieu 2004: XXX, 63). Rica beschließt, sich europäisch zu kleiden und stellt fest, dass er plötzlich gar nicht mehr als fremd und merkwürdig wahrgenommen wird. In der noch nicht rassistischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts genügt es, sich umzuziehen, um nicht länger auf Indizien hin geprüft zu werden, die auf eine fremde Herkunft schließen lassen. Rica ist eine Figur, die sich spielend leicht an die neue Kultur anpasst, ohne darunter zu leiden und ohne mit dem Verdacht konfrontiert zu werden, etwas zu verbergen: »Ich gehe unter die Leute und suche sie kennenzulernen. Aus meinem Denken verschwinden unmerklich die letzten asiatischen Spuren, und es paßt sich mühelos den europäischen Gewohnheiten an« (LXIII, 119).
Usbek dagegen möchte die neue Kultur intellektuell durchdringen, ohne sich von deren Vorurteilen anstecken zu lassen. Dadurch beraubt er sich der Leichtigkeit im sozialen Umgang, die Rica auszeichnet. Rica und Usbek entfremden sich voneinander, je mehr der eine zum Franzosen wird und der andere Außenseiter bleibt, weil er völlig unvoreingenommen leben will. Dies ist jedoch eine unmögliche, selbstwidersprüchliche Position. Deshalb ist Usbek am Ende ganz niedergeschlagen und schätzt all jene glücklich, die »kein anderes Land« (CLV, 294) kennengelernt haben als das, in dem sie geboren wurden. Sein Wissensdurst trieb ihn in eine andere Kultur und wurde gestillt, ohne dass der auf diese Weise Aufgeklärte in der neuen Kultur heimisch geworden wäre. Den Weg nach vorne in die Übernahme der Konventionen und kulturellen Vorurteile der Pariser Gesellschaft möchte Usbek nicht gehen, weil er universalistisch und idealistisch denkt. Aber der Weg zurück in die wärmenden Vorurteile der eigenen Herkunftskultur ist erst recht versperrt.
3. Das dritte Thema sind die Frauen. Die Unhaltbarkeit der Position Usbeks zwischen den Kulturen liegt auch darin, dass er ungeachtet seines Idealismus zugleich Herrscher über einen Harem in seiner Heimatstadt ist, den er vor Ort von Eunuchen regieren lässt. Usbek ist ein aufgeklärter Denker, aber auch ein eifersüchtiger Despot. Die Ordnung seines Harems gerät allerdings ins Wanken, je länger sein Herr in Frankreich weilt. Roxane, eine von Usbeks Frauen, zettelt nämlich eine letztlich erfolglose Revolte gegen ihren Gemahl an, nachdem sie zuvor bereits alles getan hat, um den Eunuchen das Leben schwer zu machen. Es ist bemerkenswert, dass Montesquieu sein Werk mit einem Abschiedsbrief Roxanes an Usbek beschließt, den sie schreibt, nachdem sie Gift genommen hat. In dem Brief spricht sie vonihrem Hass auf die Despotie und ihren Mann sowie davon, dass sie seine Gesetze »nach den Gesetzen der Natur abgeändert« habe (CLXI, 300). In dieser Aussage klingen Ideen der englischen Aufklärung, insbesondere John Lockes, an. Wir erinnern uns, dass Usbek selbst vor dem Verlassen seiner Heimat von sich
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