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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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sagte, den Mächtigen gegenüber »in einer bis dahin unbekannten Sprache« (XIII, 22) gesprochen zu haben. Mit demselben Anspruch wird er jetzt von seiner eigenen Frau konfrontiert: »Diese Sprache erscheint Dir sicher neu« (CLXI, 301). So schließt sich der Kreis. Die Figur der Perserin Roxane ist von zentraler Bedeutung, weil sie Montesquieus Überzeugung verdeutlicht, dass Frauen und andere unterdrückte Gruppen ihre eigene kulturelle Umwelt kritisieren und überwinden können. 7 Weit davon entfernt, einen kulturellen Determinismus zu verteidigen oder lediglich »genialen Männern« (Parekh 2006: 78) kreative Freiheit zuzusprechen, kann Montesquieu als ein früher Kritiker der Vorstellung gelesen werden, dass Kulturen die Menschen, die sich ihnen zugehörig fühlen, wie ein Kokon einhüllen und steuern, ohne dass sie die Möglichkeit hätten, die Bedingungen und Formen ihrer Mitgliedschaft infrage zu stellen.
    Die unterschiedlichen, sich je nach Kontext entwickelnden Verhaltensstrategien von Roxane, Rica und Usbek illustrieren eine wichtige Einsicht Montesquieus: Kulturelle Differenzen werden nicht nach einem festgelegten Muster relevant, sondern müssen immer wieder aufs Neue in Interaktionen mit anderen realisiert werden. Ob diese Interaktionen gelingen und wohin sie führen, ist dabei offen und hängt keineswegs allein vom guten Willen der Beteiligten ab. Das Interaktionsgeschehen kann dazu führen, dass Differenzen zugeschrieben, geleugnet, hergestellt, dramatisiert oder als bedeutungslos übergangen werden. Die jüngeren Theoretiker des Multikulturalismus und der »Interkulturalität« stehen in dieser Tradition. Die Unterschiede und Unvereinbarkeiten, auf die wir in der Interaktion mit anderen treffen, erleben wir oft als »kulturelle« Differenzen. Dies berechtigt uns jedoch nicht dazu, schon vorher und ohne empirische Prüfung davon auszugehen, dass es solche Unterschiede wirklich gibt oder gar, dass sie unüberwindbar sind (vgl. Taylor 1996: 122; Leggewie und Zifonun 2011).
Joseph in Ägypten und andere Geschichten
    Das nächste Beispiel, das ich diskutieren möchte, ist Thomas Manns literarische Verarbeitung einer Episode aus der Zerstreuungsgeschichte des jüdischen Volkes in Joseph in Ägypten – ein Roman, der von Manns eigener Exilerfahrung nach 1933 inspiriert wurde. Für eine Beschäftigung mit diesem Porträt des jüdischen Exilanten Joseph spricht schon der Umstand, dass der Roman eine heftige, nicht nur innerjüdische Debatte über die Bewertung von Assimilation und Selbstabgrenzung in fremden Kulturen auslöste, die auch Lehren für die Debatte um den Multikulturalismus enthält (vgl. Birnbaum 1998). Außerdem ist festzustellen, dass die Schilderungen der Hebräischen Bibel immer wieder zum Anlass genommen worden sind, über Einwanderung und die Frage nachzudenken, was es heißt, sich fremd zu fühlen und so wahrgenommen zu werden. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Bonnie Honig (1998) erklärt die anhaltende Faszination der biblischen Geschichten über die jüdische Diaspora mit deren Kraft, ethische Verhaltenslehren für den Umgang mit Fremden und Fremdheit zu begründen. Auch die französische Philosophin und Literaturkritikerin Julia Kristeva hat sich wiederholt mit dem Beispiel der »kosmopolitischen« Figur der Ruth aus dem gleichnamigen Buch der Bibel auseinandergesetzt, und hat Ruths freiwillige Konversion und Einwanderung nach Judäa ausdrücklich verglichen mit heutigen, aus ihrer Sicht weniger kosmopolitischen Migranten, die aus dem Maghreb nach Frankreich kommen (Kristeva 1993: 23–25, 36–38; 1990: 79–85).
    »Welche Warenschätze quollen aus den Gewölben, und wie wimmelte und wallte es in den Gassen von den Arten und Schlägen der Adamskinder!«, dachte sich Joseph, als er mit seinem Begleiter in Theben das Schiff verließ und vom Hafen in die Stadt ging, wo er bald als Haussklave verkauft werden sollte. Wie in Babel, an das er sich auf seinem Weg sogleich erinnert fühlte, »mischten sich die Menschentypen und Trachten der vier Weltgegenden« (Mann 1983: 116) unter das einheimische Volk. Und wie schon in anderen großen Städten genoss Joseph den Anblick der »feinen und lieblichen Vermischung« von Menschen unterschiedlicher Herkunft, die seinem kosmopolitischen Wesen »eigentümlich gemäß« erschien (ebd.: 90). Der zentrale Topos dieser und anderer Passagen ist »Vermischung«. Tatsächlich kann Manns Roman gelesen werden als eine soziologische Parabel zum

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