Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
»Anderen« moderner Gesellschaften, an deren Stellung sich die Liberalität dieser Gesellschaften messen lässt. Ich fahre fort mit einer Bestimmung der Rolle von Staatsbürgerschaft in der Debatte und schließe mit einem Kommentar zum Begriff der Interkulturalität, der versteckte normative Implikationen enthält, die mich erneut darin bestärken, angesichts der schlechteren Alternativen an der Politik und Theorie des Multikulturalismus festzuhalten.
Kapitel 1
Vor dem Multikulturalismus
Die Interaktion zwischen kulturell Fremden berührt nicht nur die Interessen, sondern auch das Selbstwertgefühl der Beteiligten und ihr Bedürfnis nach symbolischer Ordnung und Abgrenzung, mit anderen Worten das, was man ungenau ihre »Identität« nennt. Mit Blick auf diesen Aspekt skizziert das vorliegende Kapitel elementare Modelle des Austauschs zwischen Migranten, Minderheiten und Neuankömmlingen auf der einen Seite und den schon länger Einheimischen auf der anderen Seite. Diese Modelle entnehme ich der Literatur der europäischen Aufklärung (Montesquieus Persische Briefe ), der Exilliteratur des 20. Jahrhunderts (Thomas Manns Joseph in Ägypten ) sowie Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit . In den beiden letztgenannten Texten werden zeitgenössische Exil-, Migrations- und Fremdheitserfahrungen mit starken Bezügen auf die Hebräische Bibel und die jüdische Erfahrung der Diaspora literarisch verarbeitet. Danach gehe ich auf eine Reihe anderer Erfahrungen ein, die Minderheiten oder Kolonialvölker im Zuge der Entwicklung des europäischen Nationalstaats machen mussten. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei jene Form des Identitätsmanagements, das man mit dem zweideutigen Begriff der »Assimilation« beschreibt. Der Begriff gehört in die Zeit der Entstehung des europäischen Nationalstaats und des französischen und britischen Kolonialismus. Die Einwände gegen Assimilation sind teilweise aber noch älter. Die Geschichte dieser Einwände ist die Vorgeschichte des Multikulturalismus.
Montesquieus Perser
Über die wechselseitigen Wahrnehmungen von Einheimischen und Zugewanderten und die moralischen und politischen Folgen von interkulturellen Kontakten wird nicht erst seit gestern nachgedacht. Bereits die europäischeAufklärung hat hierzu einiges beigetragen, wie man schön am Beispiel der Persischen Briefe von Montesquieu sehen kann. Auf diesen im Jahr 1721 anonym in Amsterdam publizierten Text möchte ich kurz eingehen, vor allem deshalb, weil Montesquieu (neben Johann Gottfried Herder und Giambattista Vico) von dem britischen Theoretiker Bhikhu Parekh als ein bedeutender Vorläufer der modernen Debatte über den Multikulturalismus eingeführt worden ist. Vielleicht sollte ich sagen: als ein halbherziger Vorläufer, weil ihm zugleich vorgeworfen wird, »eurozentrisch« zu argumentieren (Parekh 2006: 61f.). Eurozentrisch heißt die erkenntnisleitende Unterstellung der moralischen Überlegenheit Europas und die Übertragung des Schemas von Überlegenheit und Unterlegenheit auf ganze Kulturräume, die als geschlossene moralische und funktionale Einheiten konzipiert werden. Meine These lautet, dass diese Kritik in die Irre führt und Montesquieu ein noch wichtigerer Stichwortgeber für die Multikulturalismus-Debatte ist als Parekh vermutet. Einen ersten Hinweis darauf gibt bereits sein antikolonialer Vorschlag, dass es besser wäre, wenn »Indianer und Mestizen« in Spanien siedelten, als dass umgekehrt die Spanier weiterhin in Südamerika ihr Unwesen trieben (Montesquieu 2004: CXXI, 224). 6
Aber nun zur Struktur der Persischen Briefe . In diesem satirischen Werk schlüpft Montesquieu in die Haut von zwei persischen Reisenden, Usbek und Rica, die Paris in der Zeit der Herrschaft von Philippe II. d’Orléans, des Nachfolgers von Louis XIV., besuchen, um dort allerhand Kontakte zu knüpfen und Beobachtungen zu Fragen der Moral, der Liebe, der Gerechtigkeit, der Despotie und des kulturellen Pluralismus anzustellen. Der Text spielt also mit einer vorgestellten Fremdperspektive auf die eigene Kultur, ein Verfahren, das potenziell gesellschaftskritisch ist, aber auch selbst zur Kritik einlädt, wenn nämlich den Fremden eine Perspektive unterstellt wird, die diese in Wirklichkeit niemals einnehmen würden. Darauf kommt es Montesquieu jedoch gar nicht an. Der Text spielt mit wechselnden Perspektiven, ohne die Stimme eines allwissenden Autors aus dem Hintergrund vernehmen zu lassen. Es geht somit weder um
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