Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Parallele zwischen der durch die Assimilationspolitik geschaffenen psychischen Ausweglosigkeit der Kolonisierten und der Situation der Juden in Europa hat als Erster der antikoloniale Revolutionstheoretiker Frantz Fanon entdeckt. In seinem 1952 erschienen Text Schwarze Haut, weiße Masken charakterisiert Fanon den Kolonialismus nicht so sehr als ein Ausbeutungsverhältnis, sondern als einen Prozess, in dem »die lokale kulturelle Eigenart« (Fanon 1985: 15) einer Bevölkerung unterdrückt und damit ihr Selbstvertrauen beeinträchtigt wird mit der Folge, das sich die Opfer dieser Missachtung zur Anpassung an die nichtverhandelbaren Normen der Metropole gezwungen fühlen. Der Afrikaner, der das Schiff verlässt und in der Metropole angekommen ist – »der › debarqué ‹, der Ankömmling« (ebd.: 19) –, der nach einiger Zeit nicht mehr kreolisch, sondern endlich korrektes Französisch spricht und berühmte französische Schriftsteller zitieren kann, ist für Fanon das Sinnbild kolonialer Selbstdemütigung. Interessanterweise unterstreicht Fanon dabei die Verwandtschaft des afrikanischen Ankömmlings in der europäischen Gesellschaft mit den europäischen Juden. Nicht nur bezeichnet er Schwarze und Juden als »Brüder im Unglück« (ebd.: 88). Im perversen Wechselspiel von Assimilation und Antisemitismus sieht er zugleich das heuristische Schema, das auch die Situation afrikanischer und anderer Kolonialvölker verständlich macht.
Bismarck
Um das Bild abzurunden, schließe ich mit einem Beispiel, bei dem nicht Kolonisierte oder Zuwanderer, sondern ein Teil der immer schon Einheimischen mit dem Imperativ der Assimilation konfrontiert wurde. Ich meine die ab 1871 eskalierende Auseinandersetzung zwischen Preußen und dem Deutschen Kaiserreich unter Reichskanzler Otto von Bismarck auf der einen Seite und der katholischen Kirche auf der anderen Seite. Dieser Konflikt, dessen transnationale und geschlechterpolitische Dimensionen Manuel Borutta (2010) hervorgehoben hat, ist bereits von Zeitgenossen ausdrücklich als »Kulturkampf« bezeichnet worden. Im protestantisch regierten neuen Deutschland wurden die Katholiken, die damals ungefähr ein Drittel der Bevölkerung stellten, diskriminiert und als eine sowohl rückständige, »unmännliche« sowie in Fragen der Staatstreue unzuverlässige »pariah community« (Blackbourn 1987: 143) behandelt. Der Kulturkampf drehte sich keineswegs nur um das Verhältnis von Staat und Kirche, sondern war darüberhinaus angelegt als ein fundamentaler Konflikt zwischen Zivilisation und Barbarei. Mit den Juden gerieten die Katholiken auf die unzivile Seite dieses binären Codes, indem ihnen »Grausamkeit« und »religiöser Fanatismus« zugeschrieben wurden. Grausamkeit wiederum galt als zentraler Indikator für geringe Assimilationsbereitschaft an die Standards der »Kultur« (Judd 2007: 71–78). Für unsere Zwecke ist der Kulturkampf aus drei weiteren Gründen interessant.
Erstens handelt es sich um ein Lehrstück über die Schwierigkeit, tolerant zu sein. Den meisten Beobachtern dürfte es heute außerordentlich schwer fallen, mit der katholischen Kirche der damaligen Zeit zu sympathisieren, auch wenn man zugibt, dass ihren Anhängern übel mitgespielt wurde und ihnen Unrecht widerfuhr. Das ist bei einigen der multikulturellen Konflikte der Gegenwart nicht anders. Einheimische und Mehrheiten werden auch heute wieder aufgefordert, die Anliegen von Migranten und Minderheiten ernst zu nehmen und zu respektieren, ohne sie notwendigerweise zu teilen.
Zweitens ist der Kulturkampf ein Musterbeispiel für die Situation eines kulturellen Konflikts, der nichts mit Einwanderung zu tun hat. Eine solche Situation war in der älteren Diskussion um den Multikulturalismus nicht vorgesehen, als man den homogenen Nationalstaat noch stillschweigend voraussetzte und sich kulturelle Vielfalt nur als Resultat von Zuwanderung vorstellen konnte. Die deutschen Katholiken (und ihre polnischen Glaubensgeschwister in den preußischen Ostprovinzen) wurden jedoch als minderzivilisierte Fremdlinge stigmatisiert, ohne wie etwa ein Teil der französischen Juden eingewandert zu sein, und ohne wie die Kolonialvölker außerhalb der Grenzen des Mutterlandes zu leben.
Drittens schließlich ist der Kulturkampf ein Beispiel für die Vergeblichkeit des Kampfes der staatlichen Macht gegen die Macht der Kultur und der Zeichen. Ich werde alle drei Aspekte kurz kommentieren.
Zum ersten Aspekt ist zu sagen, dass die
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