Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
abzustreifen. Die Anpassung ging so weit, dass viele Juden nicht mehr»Juden« genannt werden wollten, sondern »Israeliten«, was irgendwie feiner klang, und jede Gemeinsamkeit mit den ringsum verachteten Juden aus Deutschland und Osteuropa – »Geldwechslern aus Frankfurt, polnischen Kneipenwirten, galizischen Pfandleihern« (Bernard Lazare, zit. nach Marrus 1971: 170) – weit von sich wiesen. Während die Antisemiten den Verdacht hegten, die Juden steckten alle unter einer Decke, zeigt die historische Forschung, dass in Wirklichkeit die meisten französischen Juden von der Schuld Dreyfus’ überzeugt waren und dass im Zuge der gesamten Affäre keine einzige namhafte jüdische Organisation zur Verteidigung der Rechte der Juden entstand (ebd.: 213, 240).
Dasselbe galt für Deutschland, wo etwas später selbst die weithin verachteten, aus Osteuropa zugewanderten Juden von deutschen Wäldern und deutscher Kultur schwärmten und sich ganz sicher waren, dass die Juden in Deutschland »durch innige Bande des Heimatgefühls« für immer mit diesem Land verbunden seien (Josef Lin, zit. nach Saß 2012: 322). Für die einheimischen, nicht aus dem Osten zugewanderten deutschen Juden galt erst recht, dass sie fest an ihr »Deutschtum« glaubten und es für sie, wie es in einer Erklärung hieß, »kein jüdisches Volk, am allerwenigsten in Deutschland« geben könne (zit. ebd.: 324). In den 1920er Jahren ging der Patriotismus so weit, dass sich jüdische Presseorgane in Berlin nach antisemitischen Vorfällen und Razzien über die aus ihrer Sicht allzu deutschlandkritische Berichterstattung in den USA empörten. Diese Dynamik gipfelte in den deutschnationalen Ressentiments einiger deutscher Juden gegenüber den sogenannten »Ostjuden« und ihrer Sprache, dem Jiddischen (Weiss 2000: 34–45). Ein anderer Endpunkt der Assimilationsbewegung wurde im Vorfeld des italienischen Faschismus erreicht, als der Anteil der Juden unter den Mitgliedern der Nationalen Faschistischen Partei höher war als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung (Walston 2000). 8
Einen Sonderfall bildet Russland, wo die jüdische Minderheit mit den Revolutionen im Februar und Oktober 1917 große Hoffnungen auf rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Anerkennung verband und sich verstärkt mit der russischen Sprache und Großstadtkultur identifizierte. Die Revolution löste einen teilweise selbstbestimmten Anpassungsschub aus, allerdings vor dem Hintergrund eines radikalen gesellschaftlichen Umbruchs, der undeutlich werden ließ, woran man sich anpassen sollte, und die gesamte zaristische und russisch-orthodoxe Leitkultur erfasste und außer Kraft setzte. Der in England geborene Historiker Bernard Wasserstein hat jüngst ein komplexes Bild der Situation in Russland gezeichnet. Die Schwächungdes institutionalisierten Christentums führte demnach in der Anfangsphase der Revolution zunächst zu einer Rückkehr zahlreicher konvertierter Juden zum Judaismus, eine Rückbesinnung, die manchmal öffentlichkeitswirksam zelebriert wurde. Diese Phase wurde allerdings bald abgelöst durch Zwangsmaßnahmen der kommunistischen Partei, die dem Ziel dienten, das Judentum durch die Austreibung aller religiösen und »zionistischen« Elemente zu entkernen (Wasserstein 2012: 8–10, 202).
Auch im Westen waren die Träger der Forderung nach vollständiger Assimilation keineswegs nur nationalistische und konservative Politiker, sondern ebenso Vertreter der demokratischen Linken. Dem tschechisch-deutschen Sozialdemokraten Karl Kautsky verdanken wir die vielleicht deutlichsten Formulierungen des neuen Assimilationsbegriffs des späten 19. Jahrhunderts, wenn er mit Blick auf die »Assimilierung der Juden« schreibt, dass Assimilierung »Anpassung an die nichtjüdische Gesellschaft« bedeutet (Kautsky 1914: 64). Konkret heißt das: die Aufgabe von Sprache, Ritus, Speise- und Festtagsgeboten, die Bereitschaft zum Verlassen der religiösen Gemeinschaften, zu Mischehen und zur Taufe von Neugeborenen (ebd.: 65). Kautskys Interventionen zu dieser Frage sind nicht nur deshalb bemerkenswert, weil er ein entschiedener Gegner des Antisemitismus war, sondern auch, weil seine Schriften von jüdischen Arbeitern und Aktivisten intensiv rezipiert wurden und somit selbst zu einem Motor der kulturellen Assimilation wurden.
Ein anderes gutes Beispiel für den Bedeutungswandel des Assimilationsbegriffs und die Etablierung einer expliziten Verhaltensnorm der kulturellen Anpassung ist die
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