Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
katholische Kirche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine geradezu atemberaubend reaktionäre Kraft war. Papst Pius IX. veröffentlichte eine Liste von Irrlehren (»Syllabus errorum«) und im Jahr 1864 eine Enzyklika, in der jede Lehrmeinung außer der des eigenen Apparats verurteilt wurde, namentlich »Liberalismus«, »Sozialismus« und »Communismus«, aber auch jegliche »moderne Bildung«. In einem Ton, der an die Hassprediger anderer Religionen heute erinnert, war in der Enzyklika die Rede von »schlecht gesinnten Menschen«, vom »Abschaum ihrer Verirrungen« und dem »pestartigen Verderben« der Moderne (zit. nach Engelberg 1990: 105f.). Die katholische Kirche wandte sich gegenihre Gleichstellung mit anderen Religionen im Staat und gegen das Prinzip der Toleranz. Sie äußerte sich darüber hinaus gegen die Trennung von Kirche und Staat und zugunsten der Selbstbehauptung des kirchlichen gegenüber dem staatlichen Recht. »Bismarcks Interesse an der Kirche«, so der Historiker Ernst Engelberg, »begann bei deren Organisation und steigerte sich, sobald es sich um Zonen der ›gemischten Dinge‹ handelte, wo Konflikte zwischen staatlichen, religiösen und kulturellen Institutionen verborgen waren oder sogar schon aufbrachen, etwa im Bereich der Schule, der Ehe, der sozialen und politischen Aktivität« (ebd.: 120f.). Ähnlich wie radikale Säkularisten heute wollte die deutsche Regierung, in den Worten eines zeitgenössischen Kommentators, »die Kirche und die religiösen Ideen ganz aus dem öffentlichen Leben verbannen und zu einer bloßen Privatsache machen« (zit. ebd.: 131).
Bismarck selbst hat seine für moderne Ohren zunächst ganz vernünftig klingende Diagnose des Katholizismus wie folgt formuliert:
»Die therapeutische Behandlung der katholischen Kirche in einem weltlichen Staate ist aber dadurch erschwert, daß die katholische Geistlichkeit, wenn sie ihren theoretischen Beruf voll erfüllen will, über das kirchliche Gebiet hinaus den Anspruch auf Beteiligung an weltlicher Herrschaft zu erheben hat, unter kirchlichen Formen eine politische Institution ist und auf ihre Mitarbeiter die eigne Überzeugung übertragt, daß ihre Freiheit in ihrer Herrschaft besteht und daß die Kirche überall, wo sie nicht herrscht, berechtigt ist, über Diokletianische Verfolgung zu klagen.« (Bismarck 1928: 433)
Der zweite interessante Aspekt des Kulturkampfs besteht darin, dass sich in der Praxis die »therapeutische Behandlung« der von Bismarck korrekt beschriebenen theokratischen Tendenz so auswirkte, dass die gesamte Masse der Katholiken als potenzielle Reichsfeinde gebrandmarkt wurde, auch wenn sich die Repression offiziell nur gegen den Klerus richtete. Der organisierte katholische Glaube wurde als eine Assimilationsbremse wahrgenommen, von der man befürchtete, dass sie die Germanisierung der Polen im Osten des Reichs an die neue, protestantisch gefärbte Nationalkultur Deutschlands blockieren würde. Der Kampf gegen den Katholizismus galt daher, neben der zielstrebigen Unterdrückung der polnischen Sprache an den Schulen und im Rechtswesen, als zentraler Schauplatz eines übergeordneten Kampfs der Nationalitäten. »Der Beginn des Kulturkampfs«, schreibt Bismarck freimütig in seinen Memoiren, »war für mich überwiegend bestimmt durch seine polnische Seite« (Bismarck 1928: 435). Nicht zuletzt unter diesem ethnokulturellen Aspekt wurden verschiedene Gesetze erlassen und Maßnahmen ergriffen. So stellten die berüchtigten Maigesetze des Jahres 1873 die Ausbildung und Ernennung von Priestern unter staatliche Aufsicht und erlaubten die Ausweisung von Jesuiten, die wegen ihrer internationalen Vernetzung als besonders gefährlich und zersetzend galten. Eine Folge des Kulturkampfs war, dass sich gegen Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts jeder zweite Bischof in Preußen entweder im Gefängnis oder im Exil befand und ein Viertel aller Gemeinden ohne Pfarrer waren. Dadurch wurde für Katholiken die religiös vorgeschriebene Lebensführung immer schwieriger. Kirchliche Trauungen zum Beispiel waren in einigen Landstrichen nur noch mühsam zu organisieren und Gläubige schieden ohne Sterbesakramente aus dem Leben (Ross 1998: 7). Große Bitterkeit und seelisches Leid waren die Konsequenz. Aus der Sicht der Betroffenen war somit der im Namen des Fortschritts, der Moderne und der Toleranz geführte Kulturkampf ein Angriff auf ihre Lebensform und Selbstachtung. Auf diese Weise wurde nicht zuletzt auch das
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