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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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ist die offene Stadt Bethlehem, die nicht nur die Größe hat, über die niedere, sündhafte Herkunft der »von außen Kommenden, der Fremden, der Ausgeschlossenen« (Kristeva 1990: 85) hinwegzusehen, sondern ihre Kraft den Fragen verdankt, die nur Fremde stellen können. Auf das moderne Frankreich bezogen hofft Kristeva auf eine vielfältig zusammengesetzte »Puzzle-Nation« (ebd.: 212), die gleichwohl ein Kunststück vollbringen soll, das schon Rousseau vorschwebte. So soll einerseits »die größtmögliche Harmonie« in der neuen Gesellschaft herrschen, andererseits soll diese Harmonie das »Resultat eines extremen Individualismus« (ebd.: 212f.) sein.
    2.  Assimilation . Assimilation bedeutet die durch institutionellen Zwang herbeigeführte einseitige Übernahme der dominanten kulturellen Denk- und Verhaltensmuster der Gesellschaft durch Neuankömmlinge sowie einheimische nationale, ethnische oder religiöse Minderheiten. Diese Bedeutung hat der heute nur noch abschätzig gebrauchte Begriff allerdings erst im späten 19. Jahrhundert angenommen. Davor meinte man mit Assimilation nicht die Aufnötigung bestimmter Kulturmuster, sondern deren spontane Aneignung durch Außenseiter und Ankömmlinge aller Art. Gerade weil die beiden Prozesse der Aneignung und der Aufnötigung in der Realität häufig Hand in Hand gehen, müssen sie in der Reflexion deutlich unterschieden werden. 14
    Das starke Assimilationsprogramm des klassischen europäischen Nationalstaats beruhte auf zwei Prämissen: dem Glauben an die Maßstäblichkeit der eigenen Zivilisationsstandards und der »Behauptung der universellen Erziehbarkeit« (Bourdieu 1998: 107) all derjenigen, die jene Standards noch nicht erreicht haben. Beide Prämissen sind in unterschiedlicher Weise im Laufe des 20. Jahrhunderts in die Krise geraten, allerdings leider nicht gleichzeitig. Der Glaube an die beliebige Formbarkeit von Menschen brach zusammen, lange bevor der Glaube an die Vorbildlichkeit und Einzigartigkeit der jeweils eigenen Nationalkultur geschwächt wurde. Aus dieser Schere entstand der europäische Rassismus, der das Programm der Assimilation durch ein Programm der Segregation, ethnischen Säuberung und Vernichtung ersetzte.
    Eine frühe Verteidigung der Assimilationsidee kann man bei John Locke herauslesen, der für Toleranz insbesondere gegenüber Juden nur deshalb eintrat, weil er in der Toleranz eine Voraussetzung für die Bekehrung der Juden zum Christentum sah (vgl. Israel 2006: 143). Im 20. Jahrhundert finden wir die vielleicht stärksten Verfechter des Assimilationsgedankens unter europäischen Sozialisten wie Karl Kautsky und Otto Bauer. Aus der Sicht derer, die mit der Assimilationsforderung konfrontiert wurden, ist diese Forderung nicht nur ungerecht und demütigend, sondern auch sinnlos, weil sie ihre Zwangslage nur verschärft. Die Juden, so schrieb Gershom Scholem nach dem Zweiten Weltkrieg voller Bitterkeit, »haben damit, indem sie ihr Volkstum aufzugeben bereit waren oder es verleugneten, nicht etwa ihr Elend beendet, sondern nur eine neue Quelle ihrer Leiden eröffnet. Denn die Assimilation hat die Judenfrage in Deutschland nicht etwa beseitigt, wie ihre Verfechter erhofften, sondern von einer neuen Position aus eher akuter gemacht« (Scholem 1970: 27f.).
    3.  Segregation . Darunter verstehe ich die unfreiwillige oder unabsichtliche sozialräumliche Entmischung und Trennung der dominanten von allen übrigen Gruppen innerhalb eines staatlichen Territoriums. Diese Definition betont den Zwangscharakter des Vorgangs, um ihn deutlich zu unterscheiden von der Praxis einer freiwilligen Separierung zum Beispiel chassidischer Juden vom Mainstream der Gesellschaft. Die Definition berücksichtigt außerdem den Grenzfall einer Segregation, die sich als nichtintendierte Konsequenz multikulturalistischer Maßnahmen und Programme ergibt. »Sleepwalking into segregation«, lautete hierfür die Formel von Trevor Phillips, einem prominenten britischen Kritiker des Multikulturalismus.
    Generell erscheint Segregation als eine Lösung, wenn die dominante Gruppe die Übernahme ihrer kulturellen Denk- und Verhaltensmuster durch Einwanderer oder andere Minderheiten in der Gesellschaft entweder für nicht wünschenswert oder für unmöglich hält, weil sie an unüberwindliche ethnische Schranken glaubt. In der jüngeren Geschichte Europas gab es allerdings häufig auch eine Parallelität und ein Zusammenspiel der Assimilationspolitik des Staates mit der Segregation

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