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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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sein, dessen Führer nach dem Verlust der amerikanischen Kolonien entschlossen waren, die Zügel straffer anzuziehen und sich nun auch der »Kulturarbeit«, wie der deutsche Kolonialbegriff lautete, zu widmen. 11 Ein maßgeblicher englischer Historiker fasste den neuen Meinungstrend des Londoner Establishments wie folgt zusammen: »If any immediate lesson were to be learned, it was that the mother country had been too liberal to her colonies, too tolerant of disobedience, too neglectful of the means she already had at hand to discipline wayward progeny and to mould their proper development« (Harlow 1964: 785). Überwachung, Führung und eben auch Assimilation wurden zu Losungen einer Neugründung des Empire, dessen erstes Experimentierfeld die heutige französischsprachige Provinz Quebec in Kanada werden sollte. Ausgerechnet die Nachkommen eingewanderter katholischer Bauern aus der Normandie und der Bretagne glaubte man zu Engländern machen zu können, bevor man den Quebecern dann doch frühzeitig Sprachautonomie und Religionsfreiheit zusagte (ebd.: 798; Price 1969: 181f.).
    Folgenreicher und konsequenter als jene rasch wieder aufgegebenen und von Denkern wie zum Beispiel Edmund Burke ausdrücklich kritisierten Überlegungen einiger Engländer war die französische politische Theorie der Assimilation. Die Dritte Republik von Proust und Dreyfus war eine Zeit, in der sich auch Frankreich, ausgehend von der Einverleibung Tunesiens im Jahr 1881, erneut auf den Aufbau eines Kolonialreichs und damit auf das Regieren fremder Völker besann. Hier liegt der eigentliche Ursprung der modernen Vorstellung von der Assimilation als einer externen Norm, der sich die Fremden zu beugen haben. Auf dem französischen Nationalen Kolonialkongress von 1889 verständigten sich die Delegierten darauf, »dassdie kolonialen Anstrengungen in allen Ländern unter französischer Hoheit darauf gerichtet sein sollen, unter den Eingeborenen die nationale Sprache, Sitten und Arbeitsprozesse der métropole zu verbreiten« (zit. nach Betts 1961: 31). In einem 1902 anonym publizierten Aufsatz, der dem Soziologen Emile Durkheim zugeschrieben wird, definiert der Autor die französische mission civilisatrice als das Unterfangen einer »radikalen Transformation« und »vollständigen Assimilation« der Kolonialvölker, die dadurch, dass sie die Sprache, Sitten und Institutionen der Metropole übernehmen, in der Vorstellung der Franzosen ebenfalls »richtige Franzosen« werden sollen (Durkheim 1902: 426). 12 Das Erziehungsprogramm der Assimilation sei »seinem Wesen nach identisch mit religiöser Missionierung [ prosélytisme religieux ]« (ebd.) und aus diesem Grund abzulehnen zugunsten der pragmatischeren Regierungstechniken der Holländer und Briten.
    Ohne in diese Debatte tiefer einzusteigen, kann man sagen, dass die koloniale Herrschaft ein Experimentierfeld für Praktiken der Vertreibung und Ausrottung, aber auch der Zwangsassimilation war, die gelegentlich auf die Muttergesellschaften zurückschlugen. Der Sinn der kolonialen Assimilation bestand darin, die kulturellen Besonderheiten der unterworfenen Populationen zu zerstören, ohne im Gegenzug die Kolonisierten zu Gleichen unter Gleichen zu machen und damit den Kolonialismus abzuschaffen. Dadurch wird ein Paradox erzeugt: Die »Anderen« sollen so werden wie »wir«, aber zugleich anders bleiben und weniger Rechte haben als wir. Das Denken der alten Kolonialmächte kreiste immer wieder um die Bearbeitung dieses Widerspruchs zwischen der Betonung der Konvergenz und Ähnlichkeit zwischen Herren und Dienern und dem Beharren auf der unüberwindlichen Differenz zwischen ihnen (Metcalf 1995: Kap. 3). Während somit die Herausbildung einer konsistenten Ideologie der kolonialen Herrschaft misslang, war der Kolonialismus darin erfolgreich, auf dem Weg der Assimilation einen kollektiven Minderwertigkeitskomplex in den Köpfen der als »schwarz« beschriebenen Kolonisierten zu erzeugen. Diesem Minderwertigkeitskomplex versuchten die Kolonisierten durch das Nachäffen der Verhaltensweisen der Metropole zu entkommen, was die Verachtung der Europäer gegenüber den Schwarzen umso mehr steigerte. Dass in diesem Zusammenhang »schwarz« keine Farbe war, sondern ein herrschaftliches Wahrnehmungsmuster, kann man schon daran sehen, dass das englische Königshaus seit dem Mittelalter auch die Iren als Sklaven behandelte und ihnen die eigene Sprache, Haartracht und sonstiges Gebaren auszutreiben versuchte.
    Die

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