Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Zugehörigkeitsgefühl einer einheimischen Minderheit zum neuen deutschen Nationalstaat beschädigt.
Der dritte Aspekt, der die Periode des Kulturkampfs für die Multikulturalismus-Diskussion interessant macht, besteht in der Fruchtlosigkeit der staatlichen Anstrengungen. Die »Nutzlosigkeit« des Kulturkampfs ist im Rückblick immer wieder von Historikern betont worden (Engelberg 1990: 140; Ross 1998). Die antikatholischen Verfügungen und Kampagnen bewirkten nämlich letztlich, dass die katholische Bevölkerung zusammengeschweißt und die katholische Zentrumspartei gestärkt wurde. Mehr noch: In den katholischen Gebieten mehrten sich Berichte über visionäre Ereignisse, vor allem Marienerscheinungen, die einzelnen Katholiken zuteil wurden und in der Folge dazu führten, dass das gläubige Volk mit Polizeigewalt daran gehindert werden musste, in hellen Scharen an die Orte jener Erscheinungen zu strömen, wodurch kollektive Wut und Verzückung erst recht entfacht wurden (Blackbourn 1987: 153f.). Diese Dynamik war aus dem einfachen Grund nicht zu kontrollieren, weil sich kultureller Sinn weder staatlich erzeugen noch zerstören lässt.
Das Management tiefer kultureller Differenzen
Kulturell heterogene Bevölkerungen sind nicht erst für die Gesellschaften unserer Zeit typisch. Erst in der Moderne jedoch ist daraus ein drängendes Regierungsproblem geworden. Die bisher vorgestellten Überlegungen helfen uns, eine Typologie verschiedener Formen des Managements tiefer kultureller Differenzen zu entwickeln. Mit »tiefen« Differenzen meine ich nicht unüberbrückbare Gegensätze, sondern Differenzen, die sich aus solchen Bedeutungspraktiken ergeben, die sich weder durch bloße Kommunikation noch durch Zwang in einen allgemeinen Konsens auflösen lassen. Wenn Nationalgesellschaften europäischen Typs durch die Ausbreitung von Diasporas von solchen Differenzen erfasst werden, kann man – vor der Erfindung des Multikulturalismus – vier klassische Formen des Umgangs mit diesen Differenzen unterscheiden. Die Grundunterscheidung ist die zwischen individualistischer Integration und von außen erzwungener Assimilation. Zwei prominente Alternativen sind Segregation und Gastfreundschaft. Der wohlverstandene Multikulturalismus geht über alle diese vier Formen hinaus. 13
1. Individualistische Integration . Unter diesem Begriff verstehe ich die freiwillige und spontane Übernahme der kulturellen Denk- und Verhaltensmuster der Gastgesellschaft durch Neuankömmlinge. Diese Muster sind nicht in dem Sinne dominant, dass sie als die einzig legitimen gelten und zentral vorgeschrieben werden. Der individualistischen Integration entspricht das Laisser-faire der Regierenden. Montesquieus persischer Migrant Rica, Thomas Manns Joseph und Julia Kristevas Ruth versinnbildlichen diesen Ansatz. Der Ich-Erzähler in Richard Fords Roman Canada spricht von zwangloser »Assimilation« im Sinne eines individuellen, spontanen und osmotischen Prozesses, der mit Freiheit identisch ist: »although I hadn’t been taught to assimilate, a person perhaps assimilated without knowing it. I was doing it now. You did it alone, and not with others or for them. […] This state of mind conferred another freedom on me and was like starting life over, or as I’ve already said, becoming some else« (Ford 2012: 253).
Auch in der heutigen akademischen Diskussion spielt das Konzept der individualistischen Integration noch eine wichtige Rolle, etwa bei liberalen Kritikern des Multikulturalismus. So könnte eine Alternative zum Multikulturalismus darin bestehen, Migranten ebenso wie Einheimische als freie und gleiche Individuen zu behandeln ohne Rücksicht auf die besonderen Bedürfnisse, die sich möglicherweise aus ihrer Herkunftskultur ergeben. Primordiale Gruppeneigenschaften von Einwanderern würden in dieser Perspektive weder offiziell anerkannt noch unterdrückt. Auch die Verweigerung der Übernahme der kulturellen Denk- und Verhaltensmuster der Gastgesellschaft nach dem Vorbild des Propheten Daniel wäre demnach ein individuelles Recht, dessen Wahrnehmung ebenfalls das Zugehörigkeitsgefühl der jeweiligen Individuen zum Gemeinwesen stärken könnte.
Elemente einer politischen Theorie der individualistischen Integration finden wir bei Kristeva, die Integration nicht als Einbahnstraße, sondern als einen wechselseitigen Prozess versteht. Die ideale Migrantin ist demnach die konversionswillige Nichtjüdin Ruth aus der Bibel und die ideale Gastgesellschaft
Weitere Kostenlose Bücher