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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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erstmals 1907 erschienene Schrift Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie des prominenten österreichischen Marxisten und Sozialdemokraten Otto Bauer. Im Zuge der Durchsetzung der kapitalistischen Warenproduktion, so Bauer,
    »beginnen die Juden, sich den Nationen, in deren Mitte sie leben, zu assimilieren. Es ist dies ein schwerer Prozess, der sich nur allmählich vollzieht. Sie haben ihre alte jüdische Sprache vergessen, aber sie ›mauscheln‹ noch immer. […] Sie tragen die überlieferte Kleidung nicht mehr, aber man erkennt sie als Juden noch am Gebärdenspiel. Sie haben die alte jüdische Religion längst aufgegeben, aber auf ihr an Gedanken- und Gefühlsinhalt so armes Reformjudentum wollen sie nicht verzichten. Sie kennen die alte Literatur, die alten Sagen ihres Volkes nicht mehr, aber kümmerliche Reste von all dem, einzelne Worte und Sitten, erhalten sie mit grosser Zähigkeit.« (Bauer 1924: 369f.)
    In einer Sprache, die zumindest Geringschätzung für die assimilierten Juden zum Ausdruck bringt, formuliert Bauer dasselbe Problem, das auch Proustbeschäftigt hat, nämlich die Signalwirkung jener »kümmerlichen Reste« des Judentums, an denen man die Mitglieder dieser Gruppe doch immer wieder erkennt. 9 Die Juden werden mit dem von Bauer geprägten kolonialen Begriff einer »geschichtslosen Nation« belegt und damit der nachträglichen Zivilisierung wohlmeinender Instanzen des historischen Fortschritts überantwortet. Allerdings bemerkt Bauer auch, dass sich in Europa eine Gegentendenz zur Assimilierung bemerkbar macht, die er richtig als Ausdruck des »Bewusstseins persönlicher Würde« (ebd.: 371) gerade auch der unteren Volksschichten deutet, die sich nicht länger ihrer Tradition und Eigenart schämen wollen. Besonders die aus Osteuropa stammenden Juden besinnen sich auf ihre in der jiddischen Sprache und Kultur zum Ausdruck kommende yidishkeyt , auf Figuren wie den Propheten Daniel, für den Babylon gerade nicht zur Heimat wurde, und auf das biblische Assimilationsverbot: »Ihr sollt nicht tun, was man in Ägypten tut, wo ihr gewohnt habt; ihr sollt nicht tun, was man in Kanaan tut, wohin ich euch führe. Ihre Bräuche sollt ihr nicht befolgen« (Lev. 18:3). Die Thora wird wiederentdeckt als ein Stück Heimat »to go«. 10
    Gleichwohl sieht Bauer in dieser, wie wir heute sagen würden, multikulturellen Tendenz der Aufwertung des Rechts, anders zu sein, keinen Fortschritt, sondern einen im Grunde reaktionären Versuch von Juden, insbesondere durch eigene Schulen die »künstliche Erhaltung ihrer alten kulturellen Sonderart« (Bauer 1924: 379) zu fördern. Damit jedoch der jüdische Arbeiter zum »gemeinsamen Kampfe Schulter an Schulter mit den arischen Kollegen« fähig wird, so lautet Bauers zentrales Argument, » muss er seine Gesittung der des christlichen Arbeiters nähern. Man denke sich nur die Judenkinder in eigenen Schulen mit jüdischer Unterrichtssprache! Welcher Geist wird diese Schulen beherrschen?« (ebd.; meine Hervorhebung). Hier wird noch einmal die Bedeutungsverschiebung deutlich von der Assimilation als Aneignung moderner Werte und Normen durch aufstrebende jüdische und andere randständige Bevölkerungsgruppen zur Assimilation als einer von außen an diese Gruppen herangetragenen Zumutung einseitiger Anpassung.
Kolonialismus
    Ein weiterer Aspekt der Kulturkämpfe, die den Aufstieg des europäischen Nationalstaats begleiteten, ist der Zusammenhang von Kolonialismus und Assimilation. Aus der Sicht der zu assimilierenden Fremden war Assimilation eine Einladung zur Nachahmung; aus der Sicht der assimilierenden Instanzen jedoch war Assimilation gleichbedeutend mit der Zivilisierung von Barbaren. »Die Sprache von Zivilisation und Zivilisierung«, so Jürgen Osterhammel, »war das dominante Idiom des 19. Jahrhunderts« (Osterhammel 2009: 1185). Während sich schon davor die Idee durchgesetzt hatte, dass der Mensch zu sich selbst ein instrumentelles Verhältnis unterhalten und seine vorgefundenen Eigenschaften und Neigungen wie einen Werkstoff bearbeiten könne (Taylor 1996: Kap. 9), radikalisiert das neue Idiom jenen Gedanken in zweierlei Hinsicht. Erstens geht man nun davon aus, dass der Prozess der Zivilisierung und Assimilierung auch von außen angetrieben werden kann, und zweitens, dass dies im weltweiten Maßstab geschehen kann.
    Tatsächlich scheint der Begriff der Assimilation, wie er heute gebraucht wird, erstmals im Vokabular des britischen Empire aufgetaucht zu

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