Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Frage nach dem Modell dieser Konflikte, das Taylor vorschwebt. Diese Frage lässt sich am besten beantworten, wenn man zunächst verschiedene Gegenmodelle betrachtet, die bei ihm auf deutliche Ablehnung stoßen. Dazu gehören zunächst einmal solche begrifflichen Anstrengungen, welche die Vielfalt menschlicher Wertungspraktiken als Ausdruck desselben Sets allgemeiner Werte betrachten und folglich darauf hinauslaufen, interkulturelle Konflikte als Scheinkonflikte abzutun. Dieser Umgang mit Vielfalt wird oft in eine Fortschrittserzählung gekleidet, die verschiedene moralische Meinungen als Etappen auf dem Weg zu einer finalen Vereinheitlichung deutet.
Einflussreicher ist das an Kant orientierte Modell, das die empirische Vielfalt von Wertungen und sozialen Praktiken für real, aber irrelevant erklärt und die Beteiligten dazu auffordert, sich über diese Vielfalt zu erheben, um herauszufinden, was wirklich wertvoll ist. Kantianer schlagen vor, vorgefundene Maximen einem Universalisierbarkeitstest zu unterwerfen, um ihre moralische Qualität zu testen. Die Grenze dieses Verfahrens wird allerdings dann erreicht, wenn wir auf Maximen treffen, die ebenso wie ihr Gegenteil universalisierbar und mögliche Inhalte eines allgemeinen Gesetzes sein könnten. Die Maxime »Wann immer es möglich ist, mache geistreiche Bemerkungen, um andere Leute auf ihre moralischen Fehler aufmerksam zu machen und sie in Verlegenheit zu bringen« ist nicht weniger einleuchtend als die Maxime »Lass dich niemals darauf ein, geistreiche Bemerkungen zu machen, um andere Leute auf ihre moralischen Fehler aufmerksam zu machen und sie in Verlegenheit zu bringen«. 21 Aus der Perspektive einer Theorie wie derjenigen Taylors lässt sich nicht entscheiden, welche der beiden Maximen besser ist, bevor man nicht mehr weiß über die jeweils kontextabhängige moralische Bedeutung der Ausdrücke »geistreich«, »moralische Fehler« und »Verlegenheit«. Es lässt sich sehr wohl argumentieren, dass man manchmal auf geistreiche Bemerkungen der genannten Art verzichten sollte, während sie bei anderen Anlässen geboten erscheinen können. Erst auf der Basis eines soliden moralischen Wissens lassen sich solche Entscheidungen treffen. Kontexte sind demnach nicht etwas, wovon abstrahiert werden muss, um eine gerechte Norm zu ermitteln, sondern sind selbst konstitutiv für die Beurteilung der Gerechtigkeit einer Norm.
Ein weiteres Kontrastmittel, das dabei helfen kann, die Konturen von Taylors Multikulturalismus besser sichtbar zu machen, ist Carl Schmitts Theorie des Politischen, die in jüngerer Zeit von Chantal Mouffe fortgesponnen wurde. Die zentrale These von Mouffe richtet sich gegen die vermeintliche »Illusion« der Möglichkeit einer ständigen Ausweitung des Kreises derer, die zu »uns« gehören, bis zu dem Punkt, an dem es gar keine unversöhnlich »Anderen« mehr gibt (Mouffe 2007). Auch für Mouffe beruht kollektive Identität auf starken Wertungen. Diese implizieren allerdings unmittelbar als solche ebenso starke Abwertungen der Werte anderer. Auf diese Weise sind Antagonismen in jede noch so demokratische Identitätsbildung eingebaut. Feindschaft oder das, was Schmitt die »reale Möglichkeit« (Schmitt 1963: 29, 33) des Kampfes nennt, sind somit unvermeidlich, auch wenn Mouffe diese Begriffe anders als Schmitt versteht. Kampf ist für sie nicht gleich Krieg, und die reale Möglichkeit des Kampfes bedeutet für sie nicht, wie für Schmitt, dass man dauernd auf Kampf eingestellt sein muss, so wie man sichin einem regnerischen Klima auch dann auf Regen einstellt, wenn es gerade einmal nicht regnet.
Aus Taylors Schriften lese ich drei Antworten auf diese zählebige Auffassung des Politischen heraus: (1) die Unterscheidung von Differenz und Antagonismus, (2) die These der Kontinuität von Privatem und Öffentlichem und (3) die Forderung nach interkulturellem Dialog als einer Methode zur Entdeckung universeller Werte.
1. Der bloße Umstand, dass es in der Gesellschaft Gruppen gibt, die kulturell anders orientiert sind und nicht zur eigenen sozialen Welt gehören, präjudiziert in keiner Weise, wie »wir« mit den »Anderen« interagieren. Wir können sie ignorieren, bewundern, auf sie herabschauen oder mit ihnen konkurrieren. Sie automatisch zu Feinden zu erklären, nur weil sie anders sind, würde an moralische Idiotie grenzen. Anders als Schmitt und Mouffe, aber ähnlich wie Derrida unterscheidet Taylor zwischen Differenz und Antagonismus. Starke
Weitere Kostenlose Bücher