Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Wertungen sind keineswegs synonym mit starken Abwertungen anderer. Vielmehr »läßt sich eine Gesellschaft durchaus um eine bestimmte Definition des guten Lebens organisieren, ohne daß man darin eine Herabsetzung derer sehen müßte, die sich diese Definition selbst nicht zu eigen machen« (Taylor 2009: 45; vgl. auch Straub 2009: 201). Das Hauptproblem ist für Taylor auch nicht, potenziell gewalttätige Antagonismen in diskutierbare Differenzen zu verwandeln. An die Stelle einer »Politik der Vermeidung des Kampfes« (Schmitt 1963: 35) tritt eher eine Politik der Vermeidung von Abwanderung ( exit ) im Sinne von Hirschman (2004), das heißt eine Politik der Vermeidung der Selbstabkapselung oder Sezession von Minderheiten.
2. Schmitt treibt die starre Entgegensetzung der privaten und der öffentlichen Sphäre auf die Spitze, wenn er behauptet, dass auch der Freund zum Feind werden kann, und zwar ohne aufzuhören, im privaten Sinne ein Freund zu bleiben . Persönliche Gefühle spielen keinerlei Rolle bei der Bestimmung des öffentlichen Feindes. Auf die Absurdität dieser abermaligen Verwandlung einer Differenz in einen absoluten Gegensatz hat Derrida in seiner aufmerksamen Schmitt-Lektüre hingewiesen (Derrida 2000: 130f.). Taylor vertritt auch hier eine klare Gegenposition zu Schmitt. So ist für ihn die schroffe Entgegensetzung von »privat« und »öffentlich«, sobald sie sich in realen Gesellschaften kristallisiert, selbst ein Aspekt jener stummen, nichtresonanten Moderne, die er leidenschaftlich als eine Form der aufgeklärten »Tyrannei« kritisiert (Taylor 2011a). Assimilation als der Vorgang der Zurückdrängung der öffentlichen Äußerung starker Wertungen in den Bereich des unschädlich Privaten ist das Pendant zur Zurückdrängung eines vermeintlichen Feindes hinter seine Grenzen oder auch zur Verschiebung dieser Grenzen durch imperiale Ausdehnung. Aber dieses Modell einer Zurückdrängung kommt für Taylor nicht infrage. In einigen Fällen, weil Zurückdrängung gleichbedeutend mit Auslöschung wäre, so etwa im Fall der französische Muttersprache der meisten Quebecer, die mit ihrer Zurückdrängung ins Private aussterben würde. Generell geht es bei Taylors Multikulturalismus um das ganze Spektrum jener »gemischten Dinge« (Bismarck) zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten, die sich gerade nicht – zum Leidwesen der Verteidiger des homogenen Nationalstaats – säuberlich in Privates und Öffentliches trennen lassen.
3. Taylor behauptet nicht, dass interkulturelle Konflikte deshalb entstehen, weil kulturell unterschiedlich geprägte Subjekte bestimmte universelle Güter (zum Beispiel die Menschenrechte) unterschiedlich klar erkennen. Vielmehr glaubt er, dass der Vielfalt von Wertungen tatsächlich eine Vielfalt von Gütern entspricht. Die Unterschiede zwischen den Gesellschaften im Hinblick auf »Kultur und Werte« (Taylor 1996: 120) sind groß und real und lassen sich nicht durch Aufklärung oder Umerziehung einebnen. Taylor bezweifelt allerdings, dass diese Unterschiede auf völlig unvereinbaren, füreinander intransparenten Arten der menschlichen Erfüllung basieren. In Quellen des Selbst präsentiert er das folgende Argument: Sofern wir uns anstrengen, sind wir prinzipiell fähig, bestimmte »Güter einer anderen Gesellschaft als Güter-für-jeden (also auch als Güter für uns) zu begreifen und anzuerkennen« (ebd.: 121). Wir können begreifen, dass eine andere Religion, eine andere Form der Familienorganisation oder des Wirtschaftens zur Entfaltung der betreffenden Menschen beiträgt und damit auch zu unserer Entfaltung beitragen könnte, wären wir in jener anderen Gesellschaft aufgewachsen. Dies gilt wohlgemerkt auch dann, wenn wir gleichzeitig erkennen, dass sich diese Güter nicht mit denen unserer eigenen Gesellschaft vertragen, die wiederum auch von anderen prinzipiell als Güter für jeden begriffen werden können.
Warum sind wir potenziell gut darin, einen solchen Spagat zwischen unverträglichen Gütern zu meistern? Die Antwort lautet, dass sich die Unverträglichkeit zwischen den Gütern einer anderen Kultur und unserer eigenen nicht grundsätzlich unterscheidet von den »sonstigen Dilemmata, in die wir – auch innerhalb der eigenen Lebensform – durch Konfrontation mit unvereinbaren Gütern geraten können« (ebd.). Bereits die eigene Lebensform stellt die Subjekte vor die Aufgabe, zwischen unverträglichen Gütern,die ebenfalls in ihrem Wert für jeden erkannt werden
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