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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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verwirft. Ein Ausweg bestünde in der Formulierung einer Entwicklungslehre,die erklärt, warum die Vielfalt kollektiver Wertungen letzten Endes einer Einheit weichen muss. Eine solche Konvergenztheorie wird jedoch von Taylor bereits in seinen frühen politischen Schriften zurückgewiesen, in denen er – ungefähr zeitgleich mit Rawls – von der Grunderfahrung der »Tatsache des Pluralismus« spricht (Taylor 1970: 125). Zwar ist später gelegentlich auch von der »Kultur der Moderne« im Singular die Rede, aber es wird kein Zweifel daran gelassen, dass innerhalb dieser inzwischen globalen Kultur der Mangel an Konsens über Ideale einer guten Gesellschaft den Ausgangspunkt des politischen Denkens bilden muss.
    Ein anderer Ausweg besteht darin, für eine liberale staatliche Ordnung zu plädieren, die gerade nicht als Resonanzraum für gruppenspezifische Werte funktioniert, sondern neutral und »taub« bleibt gegenüber der Vielzahl der kulturellen Stimmen innerhalb des Gemeinwesens. Gerade aus der pluralistischen Anthropologie Taylors könnte man ein Argument zugunsten des Grundsatzes der liberalen Neutralität des Staates und des Vorrangs des »Rechten vor dem Guten« herleiten. Den Vertretern eines solchen politischen Liberalismus, zum Beispiel Rawls oder Habermas, wirft Taylor vor, eigentlich gar keinen Platz für starke Wertungen zu haben. Ideale des Guten würden vielmehr diskreditiert zugunsten einer Herrschaft des allseits neutralen und neutralisierenden Rechts (Taylor 1996: 171). Besonders Habermas wird dafür kritisiert, dass er die starken Wertungen, die seiner eigenen Theorie zugrunde liegen, gar nicht reflektieren könne. Zwischen Fragen des guten Lebens und Fragen des Rechts errichte Habermas eine unübersteigbare Mauer gegen das, was er als potenziell »chauvinistische und ethnozentrische Vorstöße im Namen der jeweiligen Lebensform, Tradition oder Kultur« begreife (ebd.: 170). Eine auf Verfahren und Elitendeliberation reduzierte Demokratie erscheint Taylor jedoch als zu dünn, um der Vielfalt der gelebten Werte moderner Gesellschaften einen angemessenen Ausdruck zu verleihen. Vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen mit den separatistischen Tendenzen in seiner Heimatprovinz Quebec findet er die Annahme völlig unplausibel, dass große Kollektive ihre starken Wertungen abhängig machen sollten vom Ausgang irgendwelcher Verfahren, auch wenn sie sich auf solche Verfahren einlassen mögen. 20 Gerechtigkeit kann nicht dadurch geschaffen werden, dass Individuen und Gruppen ihr Erfahrungswissen und ihre partikularen Bindungen an subjektiv Bedeutungsvolles einklammern und außer Kraft setzen.
    Zusammenfassend kann man feststellen, dass der kanadische Philosoph sowohl einen Staat ablehnt, der nur der Kultur einer einzigen Gruppe zur Resonanz verhilft, als auch einen Staat, der neutral ist und überhaupt nichtdurch starke Wertungen irgendwelcher Art in Schwingung gerät. Damit wirft Taylor mehr Fragen auf, als er beantwortet. Unser Urteil darüber, wie Taylors Moralphilosophie und philosophische Anthropologie zu seiner politischen Theorie des Multikulturalismus passen, müssen wir folglich noch in der Schwebe halten. Die Leistung seiner bis hierher vorgestellten Theorie liegt darin, zu zeigen, dass die Missachtung der besonderen kulturellen Äußerungen von Personen und Gruppen, die in starken Wertungen gründen, zu moralischen Verletzungen führt, welche wiederum Kämpfe um Anerkennung anheizen können. Dagegen ist nicht zu erkennen, wie sich Taylor das Zusammenleben unterschiedlicher Gruppen mit jeweils robusten Identitäten innerhalb eines demokratischen Staates vorstellt, der zugleich davor bewahrt werden soll, an einem Mangel an moralischen Gemeinsamkeiten zugrunde zu gehen. Dies zu vermeiden ist der zentrale Imperativ, ist doch für Taylor das drohende »Auseinanderbrechen« (Taylor 2009: 38) seines eigenen Landes zugleich auch eine Metapher für die Gefahr der Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhalts überhaupt.
Interkulturelle Konflikte
    Personen und Gruppen unterscheiden sich voneinander durch die Art und Weise, in der sie qualitative Unterscheidungen treffen zwischen höheren und niederen Gütern. Taylor zweifelt nicht daran, dass es trotz aller Hinweise auf multiple oder hybride Identitäten zahlreiche, miteinander unverträgliche Formen der menschlichen Selbstverwirklichung gibt. Dies macht Konflikte immer dort wahrscheinlich, wo man sich nicht aus dem Weg gehen kann. Damit stellt sich die

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