Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Leben zu versäumen und orientierungslos dahinzutreiben. Starke Güter sind demnach keine subjektiven Marotten, aber ebenso wenig sind sie objektiv in dem Sinne, dass man sie an einem objektiven Wertehimmel wie Sternbilder entziffern könnte. Taylors Vorstellung ist eher, dass sie aus der Tiefe unserer Innerlichkeit geschöpft werden. Authentisch leben bedeutet, jene »erfüllte«, »reine« oder »tiefe« Lebensweise anzustreben, die uns jeweils als besonders vorbildlich und nachahmenswert erscheinen mag. »Meine Natur erfüllen heißt, daß ich mich zu dem Elan, der Stimme oder Regung in meinem Inneren bekenne. Dadurch wird, was verborgen war, sowohl für mich selbst wie auch für andere kundgetan« (ebd.: 652). Dieses Kundtun wiederum ist nicht so zu verstehen, als gäbe es einen fertigen inneren Text,der sozusagen nur noch veröffentlicht werden muss. Eher bedeutet Authentizität, dass Stimmen und Regungen durch ihre Artikulation im Austausch mit anderen überhaupt erst an Form annehmen. Das Ausgedrückte entsteht im Prozess des Ausdrucks.
Der Begriff starker, identitätsstiftender Wertungen führt nun im nächsten Schritt dazu, dass Subjekte als empfindlich für Verletzungen konstruiert werden, die dadurch entstehen, dass andere diese Wertungen zurückweisen und die Gesellschaft als Ganze ihnen gegenüber stumm und indifferent bleibt. Da solche Verletzungen durch Missachtung die Identität der Wertenden berühren, sind sie ungleich gravierender als bloße Rückschläge bei der Verfolgung eigennütziger Interessen.
Genau genommen sind es zwei Dinge, die schiefgehen können und die ich etwas deutlicher als Taylor und einige seiner Kommentatoren unterscheiden möchte. Erstens können die Ausbildung der Fähigkeit zu starken Wertungen und damit die Konsolidierung von Identität misslingen. Das Resultat sind Pathologien der Desorientierung und Willensschwäche, wie sie sich tatsächlich in modernen Gesellschaften beobachten lassen, in denen viele Menschen von Gefühlen der Leere oder der Vergeblichkeit beherrscht werden. Für unser Thema wichtiger sind jedoch diejenigen Fälle, in denen Personen und Gruppen bestimmte Güter stark werten, ohne allerdings mit ihren Wertungen in der weiteren Gesellschaft auf eine positive Resonanz zu stoßen. Dieser Mangel an Widerhall für das, was den Subjekten zutiefst am Herzen liegt, kann möglicherweise auf die Überlebensfähigkeit von starken Wertungen selbst zurückschlagen und damit die Identität und Selbstachtung der Betroffenen gefährden. Sie kann aber auch Kämpfe für Institutionen und Normen anspornen, die es erlauben, dass die »Subjekte sich in den Institutionen und Praktiken, in denen sie handeln, einerseits ›wiedererkennen‹ und andererseits ›zum Ausdruck‹ bringen, sich mithin expressiv entfalten können« (Rosa 2011: 22). Eine gute Gesellschaft ist eine, deren Institutionen den starken Wertungen ihrer Mitglieder nicht indifferent und resonanzlos gegenüberstehen, sondern diese anerkennen .
Damit ist freilich noch nichts darüber gesagt, was genau unter »Anerkennung« verstanden werden soll. An diesem Punkt angekommen wissen wir nur, dass Taylor einen Zusammenhang herstellt zwischen starken Wertungen, authentischem Ausdruck dieser Wertungen und der Notwendigkeit der Anerkennung dieses Selbstausdrucks durch andere. Authentizität ist dabei nicht eine bloße Zugabe zur persönlichen Entwicklung, so wie man sich wünschen mag, dass bestimmte Leute ein bisschen mehr aus sich herausgehen würden. Das Streben nach Authentizität ist vielmehr ein unbedingt gebotener Weg, dem eigenen Leben überhaupt eine »festumrissene Gestalt« (Taylor 1996: 652) zu geben. Das Gegenteil von Authentizität ist die Unterwerfung unter ein »äußeres Modell« (ebd.) des Verhaltens, das man einfach kopiert. Noch schlimmer als ein solches konformistisches Kopierverhalten ist die zwangsweise Assimilation an die Standards einer unhinterfragten Leitkultur. Assimilation wirkt verheerend auf die Selbstachtung der Betroffenen, weil sie das selbstbestimmte Streben nach Sinn und Einheit des Lebens untergräbt. Taylor bezieht sich interessanterweise auf Proust, um diesen Gedanken zu erläutern. Unter den Bedingungen kultureller Fremdbestimmung ist »das Leben bloß ›verlorene Zeit‹ in der von Proust intendierten doppelten Bedeutung des Titels seines berühmten Werks« (ebd.: 86f.). 19
In einem weiteren Schritt wird das Ideal der Authentizität unter Berufung auf Herder, dessen
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