Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Anzeichen höchster Arroganz« (ebd.). Das Ziel des Multikulturalismus besteht also nicht nur in der wechselseitigen Anerkennung von Personen und Gruppen, sondern darüber hinaus in einer kontinuierlichen Prüfung dessen, was überhaupt als anerkennungwürdig gelten soll. Hier stoßen wir allerdings auf einen Zirkel, da die Verwirklichung dieses Ziels eine relativ arroganzfreie, an kulturelle Vielfalt gewöhnte Gesellschaft bereits voraussetzt.
Dieser Zirkel bildet eine Konstante im Werk des kanadischen Philosophen. Schon in den erwähnten frühen politischen Texten, in denen erstmals von der Tatsache des Pluralismus die Rede ist, umreißt Taylor das Konzept der dialogischen Gesellschaft als einer längst erfahrbaren, alltäglichen Realität, die nur noch vervollkommnet werden muss. Die Gesellschaftsmitglieder werden von starken, oft miteinander unvereinbaren Wertungen beseelt, aber sie sind sich der Wahrheit ihrer Werte keineswegs völlig sicher und daheroffen für alternative Weltdeutungen. Wir sind alle »Suchende«, so Taylor in den Sechzigern: »[…] the fact of pluralism has entered into the very content of our varied beliefs so that we are already in dialogue within ourselves with the ideas of others« (Taylor 1970: 125). Diese Aussage enthält die empirische Unterstellung, dass zumindest in einigen modernen Gesellschaften die durch unterschiedliche kulturelle Einflüsse geprägten Gruppen sich soweit füreinander geöffnet haben, dass der allseitige Dialog bereits eingesetzt hat, und sei es als innerer Dialog. »Dialog« ist in diesem Zusammenhang nicht ein Gegenbegriff zu Schmitts »Kampf«, nicht eine »reale Möglichkeit«, sondern ein alltäglicher Vorgang, der sich aus den vielfältigen Interaktionen einer kulturell pluralen Gesellschaft wie von selbst ergibt.
»Eine andere Welt ist wirklich«: Tully
Der nach Taylor nächstjüngere unter den großen kanadischen Theoretikern des Multikulturalismus ist der politische Philosoph James Tully. Tully geht in der Weise über die Konzeption Taylors hinaus, dass er sie radikalisiert . Dies geschieht durch den starken Praxisbezug seiner »öffentlichen Philosophie«, seine Reaktualisierung des Begriffs des Imperialismus und seine These, dass die Lösung multikultureller Konflikte nicht allein eine Aufgabe der Zivilgesellschaft ist, sondern eine Neuordnung von Staat und Verfassung erfordern kann.
Bereits Taylor macht die Antwort auf philosophische Fragen nach dem Charakter und dem Verhältnis unterschiedlicher Kulturen abhängig vom Ausgang empirischer Konflikte, und bindet damit seine Disziplin eng an Fragen des öffentlichen Engagements. Tully geht einen Schritt weiter, indem er die Idee einer public philosophy verteidigt, deren Aufgabe nicht länger darin besteht, unanfechtbare Grundsätze des gerechten demokratischen Lebens zu ermitteln und diese einer mehr oder weniger lernwilligen Öffentlichkeit zu unterbreiten. Vielmehr entwickelt er ein intellektuelles Genre, das sich mit sozialen Bewegungen und Strömungen verbündet, die für die dauernde Neuverhandlung nicht nur von positiven Gesetzen, sondern auch von Gerechtigkeitsprinzipien und Regeln der Deliberation eintreten, also für eine Art liquid democracy . Man kann von einer starken bürgerschaftlichen Orientierung der Philosophie sprechen, sofern man bereit ist, auch die Kämpfe von Nichtbürgern – Flüchtlingen, Marginalisierten, »Illegalen« – einzubeziehen, die für Tully ebenfalls einen Anlass zur Revision von intellektuellen und politischen Routinen bieten können. An einer anderen Stelle drückt Tully diesen Gedanken bildhaft aus, indem er ein Denken fordert, dass die »Weisheit der Eule« kombiniert mit den »Verhaltensweisen des Raben, der unendlich neugierig ist auf das, worauf wir zusteuern« (Tully 2008: II, 72).
Dieser Vorstellung von der Aufgabe einer öffentlichen Philosophie entspricht ein systematischer Vorrang der Freiheit vor der Gerechtigkeit. Solange sich über das, was gerecht ist, trefflich streiten lässt, muss die Freiheit, auch Gerechtigkeitsnormen infrage zu stellen, gewahrt bleiben (ebd.: I, 37f.). Das Primat der Freiheit gegenüber der Gerechtigkeit ist ein Primat der Kasuistik gegenüber dem abstrakten Regelwissen und ein Primat der Praxis gegenüber der kontextfreien moralischen Reflexion. Darin steckt ein großes Misstrauen gegenüber der Fähigkeit der traditionellen Philosophie, als verlässliche Quelle unserer Einsicht in die Maßstäbe der Gerechtigkeit zu
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