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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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philosophischer Nationalismus Taylor schon in jungen Jahren beeinflusste (Taylor 1994: 136), nicht nur mit Blick auf Individuen verteidigt, sondern ebenso mit Blick auf ethnische Communities und ganze Kulturen. »Die verschiedenen Völker«, so referiert Taylor den deutschen Geschichtsphilosophen Herder, »haben jeweils ihre eigenen Weisen des Menschseins und sollten ihnen nicht untreu werden, indem sie andere nachahmen« (Taylor 1996: 655). In dem maßgeblichen Essay von 1992 mit dem Titel »Die Politik der Anerkennung«, in dem Taylor sich neben Rousseau erneut auf Herder beruft, treten an die Stelle der »Völker« nicht näher spezifizierte minoritäre oder subalterne »Gruppen«:
    »Während die Politik der allgemeinen Würde auf etwas Universelles zielt, auf etwas, das für alle gleich ist, auf ein identisches Paket von Rechten und Freiheiten, verlangt die Politik der Differenz, die unverwechselbare Identität eines Individuums oder einer Gruppe anzuerkennen, ihre Besonderheit gegenüber allen anderen. Dem liegt das Argument zugrunde, daß gerade diese Besonderheit bisher verkannt und verdeckt und einer dominierenden oder von einer Mehrheit gestützten Identität assimiliert wurde. Diese Assimilation ist die Todsünde gegen das Ideal der Authentizität.« (Taylor 2009: 25)
    Wir begegnen hier einer radikalen, philosophisch begründeten Kritik an der nationalstaatlichen Politik der Assimilation. Die einzige Schwäche dieser Kritik besteht aus meiner Sicht darin, dass sie durch die Bezugnahme auf Herder den Verdacht nahelegt, authentische Traditionen oder »eigene Weisen des Menschseins« seien Gegenstände, die man durch ethnografische Beobachtung oder soziologische Analyse objektiv beschreiben könne. Wenn dem so wäre, könnte man das Verhalten von Individuen »aus« bestimmtenKulturen daran messen, ob es sich im Einklang befindet mit den jeweils als »authentisch« ermittelten Zivilisationsstandards. Es wäre dann legitim, von Buddhisten, Deutschen oder Arabern zu sprechen, die sich nicht wie »richtige« Buddhisten, Deutsche oder Araber benehmen. Ich gebe zu, dass Taylor nicht genug getan hat, um eine solche fatale Lesart einiger seiner Formulierungen auszuschließen. Zugleich scheint mir offensichtlich zu sein, dass die pauschale Fremdzuschreibung von Identität und die Unterstellung einer unproblematischen Zugehörigkeit von Individuen zu schützenswerten Gruppen und Kulturen gegen den Geist seiner Philosophie verstößt, der es darum geht, Institutionen zu schaffen, die es jedem Einzelnen erlauben, ihre eigene, »authentische« Stimme zum Ausdruck zu bringen.
    Etwas glücklicher sind Formulierungen, die man bei dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu finden kann, der ganz ähnlich wie Taylor die historische Doppelbewegung der rücksichtslosen Durchsetzung einer nationalstaatlichen Einheitskultur als der jeweils einzig legitimen und universalen bei gleichzeitiger Abwertung aller anderen kulturellen Elemente kritisiert. Dieser Prozess einer kulturellen »Monopolisierung« und »Enteignung« führe dazu, dass die zwangsweise Akkulturierten »in gewisser Weise in ihrem Menschsein versehrt sind« (Bourdieu 1998: 108; meine Hervorhebung).
    Nun ist Bourdieu nie als ein Theoretiker des Multikulturalismus aufgefallen, sondern eher als ein moderater Verteidiger des klassischen europäischen Nationalstaats französischer Prägung gegen die Globalisierung. Dies ist deswegen eine wichtige Feststellung, weil sie auf das Problem verweist, welche politischen Konsequenzen sich aus Taylors philosophischer Anthropologie ziehen lassen. Aus einer Anthropologie, die begründet, dass Menschen nicht anders können als sich durch Ideale des guten Lebens zu definieren, und dass sie für ihre Integrität auf eine positive Resonanz dieser Ideale in den Praktiken und Institutionen der Gesellschaft angewiesen sind, folgt keineswegs zwingend eine Verteidigung des Multikulturalismus. Die These, dass eine geglückte Existenz für Personen und Gruppen im Ausleben ihrer starken Wertungen innerhalb von Strukturen besteht, in denen sich diese Wertungen spiegeln, macht verständlich, warum viele Muslime für die Scharia als Verfassungsprinzip oder Katholiken für strafbewehrte Blasphemieverbote eintreten. Sie trägt aber nicht zur Klärung der Frage bei, wie Gruppen mit unterschiedlichen Wertungspraktiken innerhalb desselben Staates friedlich zusammenleben können.
    Es gibt zwei Auswege aus dieser Situation, die Taylor aber beide

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