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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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»liberal« (ebd.: 170–172). Zweitens argumentiert Kymlicka dafür, nicht darin nachzulassen, mit den Anhängern illiberaler kultureller Gruppen den Dialog zu suchen und dabei das Ziel zu verfolgen, Verhaltensänderungen durch moralische Überzeugung oder wirtschaftliche Anreize herbeizuführen. Wie bei zwischenstaatlichen Beziehungen sollen friedliche Verhandlungen Vorrang haben vor der Androhung und Ausübung von Zwang. Solche Verhandlungen setzen voraus, dass Liberale (a) unterscheiden können zwischen liberalen Prinzipien und dem Recht, diese Prinzipien in jeder Situation durchzusetzen, und (b) gleichwohl entschlossen sind, liberalen Prinzipien auch unter den Bedingungen ihrer nur eingeschränkten Universalisierbarkeit treu zu bleiben. Wo liberale Prinzipien nicht durchgesetzt werden können, besteht die Aufgabe darin, nach autonomieschonenden Maßnahmen Ausschau zu halten, die einen für alle erträglichen Modus Vivendi gewährleisten (ebd.: 167f.). Obwohl er vage bleibt, wenn es darum geht, die Schwellen zu definieren, jenseits derer der Staat im Extremfall in die Selbstverwaltungsrechte einer nationalen Minderheit eingreifen darf, behält Kymlicka auch diese dritte Option im Blick.
    All dies gilt wohlgemerkt nur für nationale Minderheiten, nicht für Einwanderer. Zwar lehnt Kymlicka deren zwangsweise Assimilation ab, er bekräftigt jedoch die konventionelle Erwartung, dass sich Migranten in die Gesellschaft einfügen müssen. Das »Engagement für den ›Multikulturalismus‹«, so seine deutlichen Worte, zielt auf eine Veränderung der Art und Weise, » wie sich Einwanderer in die herrschende Kultur [ dominant culture ] integrieren, nicht dass sie sich integrieren« (ebd.: 78; Hervorhebung im Original). Ein Indiz für diese wünschenswerte Integration sieht er zum Beispiel in der Zurückdrängung der Muttersprache von Zuwanderern in die Privatsphäre und das Erlernen einer neuen Muttersprache durch deren Nachkommen. Im Grunde kehrt Kymlicka zum alten, vornationalstaatlichen Verständnisvon Assimilation zurück, als dieser Begriff noch die freiwillige Aneignung zumindest eines Teils des kulturellen Erbes der Aufnahmegesellschaft durch Neuankömmlinge bedeutete, wie ich in Kapitel 1 ausgeführt habe. In diesem Sinne ist Gewährleistung von »sozialer Integration und politischer Einheit« (ebd.: 181) der zentrale Imperativ jeder staatlichen Politik im Umgang mit Migranten.
    Für deutschsprachige Leser, die von kanadischen Multikulturalisten radikale, vielleicht sogar utopische Töne erwarten, klingen solche nüchternen Aussagen gewiss überraschend oder sogar enttäuschend. Tatsächlich ist verschiedentlich bemerkt worden, etwa von Iris Marion Young (1997) und Joseph Carens (2000: Kap. 3), dass einer der am meisten zitierten Verfechter des Multikulturalismus erstaunlich wenig zu der Frage zu sagen hat, warum eine multikulturelle Gesellschaft eigentlich wünschenswert oder notwendig ist. Der theorieimmanente Grund für diese Schwäche liegt im Begriff der »gesellschaftlichen Kultur«, den Kymlicka wie folgt definiert:
    »[…] the term ›culture‹ has been used to cover all manner of groups, from teenage gangs to global civilizations. The sort of culture that I will focus on, however, is a societal culture – that is, a culture that provides its members with meaningful ways of life across the full range of human activities, including social, educational, religious, recreational, and economic life, encompassing both public and private spheres. These cultures tend to territorially concentrated, and based on a shared language.« (Kymlicka 1995: 76)
    Kymlicka geht somit vom Regelfall einer holistischen, räumlich umgrenzten Kultur aus, die das Leben ihrer Mitglieder sinnvoll macht. Man mag zur Illustration an relativ extreme Beispiele von Gruppen denken, die Kymlicka in seinem Buch nennt: chassidische Juden in Brooklyn, Mennoniten in Kanada oder Pueblo-Indianer in Arizona. Oder man kann an die gesellschaftlichen Kulturen mancher moderner Staaten denken, die trotz wachsender Heterogenität immer noch starke Zugehörigkeitsgefühle bei denen produzieren, die in diesen Kulturen aufwachsen. In dem Maße, wie Individuen in einer so gearteten Kultur aufwachsen, bedeutet Migration für sie eine erhebliche Verlusterfahrung. Ich zitiere aus den Memoiren eines in Bombay geborenen Migranten, der von sich selbst in der dritten Person spricht:
    »He was a migrant. He was one of those who ended up in a place that was not

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