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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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636). Typisch für Habermas ist der Satz zum einen deshalb, weil eine normative Aussage als Tatsachenfeststellung präsentiert wird. Zum anderen bringt der Satz eine doppelte Forderung zum Ausdruck. Man kann ihn so lesen, dass der moderne Rechtsstaat sich nicht auf vorgefundene oder imaginierte kulturelle Gemeinsamkeiten einer einheimischen Kernbevölkerung stützen soll. Aber auch solche »ethnisch-kulturellen Gemeinsamkeiten«, die sich als kleinster gemeinsamer Nenner in den egalitären Austauschprozessen einer heterogenen Bevölkerung herausschälen, dürfen nicht die Grundlage des Staates bilden, der vielmehr ganz ohne ein solches kulturelles Fundament auskommen soll.
    Diese Argumentation zielt darauf ab, Staatsangehörigkeit und politische Teilhabe systematisch zu trennen von substanziellen Vorstellungen nationaler oder kultureller Identität und damit den öffentlichen Raum frei zu geben für alle – einschließlich künftiger Zuwanderer und Nachgeborener. Die Kehrseite davon ist jedoch die an die Bürger gerichtete Erwartung, dass sie sich immer schon reflexiv und selbstkritisch zu ihren eigenen kulturellen Traditionen und Einstellungen verhalten mögen, um als kompetente Gesprächspartner in der Demokratie der Vernünftigen mitreden zu können. Vor diesem Hintergrund musste der Multikulturalismus Habermas von Anfang an suspekt vorkommen, schien dieser undeutliche Begriff doch genau solche kulturellen Gemeinsamkeiten von Gruppen als besonders schützenswert zu betrachten, die in seiner eigenen Theorie als funktionale Hindernisse der Entfaltung einer rationalen Öffentlichkeit beschrieben werden.
    Hinzu kommt ein Problem, das man etwas ungenau als den Eurozentrismus von Habermas bezeichnen kann. Damit meine ich, dass für Habermas »Europa« den Gipfel der moralischen Fortschrittsgeschichte der Moderneverkörpert. Ich behaupte nicht, dass seine gesamte Theorie eurozentrisch ist, wohl aber drängt sich dieses Attribut auf, wenn man einige seiner zeitdiagnostischen Einlassungen liest. Ein Beispiel ist seine – in ihren politischen Schlussfolgerungen sicher berechtigte – Kritik am Irakkrieg der US-Regierung unter Präsident George W. Bush. Habermas (2004) prägte allerdings aus diesem Anlass auch den Begriff des »gespaltenen Westens«, um über die tagespolitische Polemik hinaus ein grundsätzliches Modernitäts- und Aufklärungsgefälle zwischen Europa und den Vereinigten Staaten zu konstatieren (zur Diskussion vgl. Heins 2011: Kap. 5). Als Indiz der relativen Rückständigkeit der USA galt ihm damals die aus seiner Sicht übergroße Bedeutung religiöser Anrufungen in der politischen Öffentlichkeit der Supermacht. In der Zwischenzeit scheint nun Religion nicht nur in Amerika, sondern weltweit an Bedeutung für die politische Mobilisierung der Bevölkerung gewonnen zu haben. Diesen Eindruck hat Habermas in einem jüngeren Beitrag zu dem melancholischen Stimmungsbild verdichtet, dass sich angesichts der wachsenden globalen Bedeutung der Religion nicht Amerika, sondern »Europa vom Rest der Welt isoliert« habe und sich vom »Normalvorbild für die Zukunft aller übrigen Kulturen« zu einem »Sonderfall« entwickelt habe (Habermas 2005a: 121).
    Dieses sogleich wieder relativierte Bild Europas als einer weltgeschichtlichen Anomalie ohne Nachahmer hat Konsequenzen für die Bewertung der Einwanderung nach Europa. Obwohl sich Habermas immer wieder für eine liberale Migrations- und Asylpolitik eingesetzt hat, laden seine Kommentare nicht dazu ein, mit großer Zuversicht den Einwanderern entgegenzusehen, die von außerhalb Europas kommen, da unklar bleibt, was die europäischen Gesellschaften in kultureller Hinsicht von ihnen lernen könnten. In einer erläuternden Fußnote zu der soeben zitierten Passage stimmt Habermas der These zu, dass die vermeintliche relative Rückständigkeit der USA und ihr geringerer Grad an Säkularisierung nicht zuletzt »der vergleichsweise hohen Einwanderung aus Ländern mit traditional geprägten Gesellschaften« (ebd.: 122, Fn. 6) geschuldet sei. Wenngleich Habermas weit davon entfernt ist, hier ein Bedrohungsszenario an die Wand zu malen, so ist sein Bild der globalen Gegenwart doch wenig geeignet, jene radikale Offenheit und Neugierde zu kultivieren, die das Werk der anfangs von mir diskutierten nordamerikanischen Intellektuellen kennzeichnet.
    Vor diesem Hintergrund werde ich nun die Kritik von Habermas am Multikulturalismus rekonstruieren. Dies soll in zwei Schritten

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