Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Sprecher jener Muttersprache oder ihres Rangs als dominanter Nationalsprache oder Sprache einer Minderheit. Durch solche Analogien stellt Kymlicka eine enge Verbindung her zwischen nicht gewählter Kultur und individueller Freiheit, die ihm zufolge aufeinander verweisen: »freedom of choice is dependent on social practices, cultural meanings, and a shared language« (ebd.: 126). Gerade weil die Freiheit die zentrale Norm liberaler Demokratien ist, muss daher der Schutz traditioneller gesellschaftlicher Kulturen eine hohe Priorität genießen.
Diese dezidiert liberale Pointe hat in hohem Maße zur Popularität der Schriften Kymlickas beigetragen. Im Einzelnen sind es drei Aspekte, die als besonders überzeugend rezipiert worden sind: (1) eine auf pragmatische Umsetzung bedachte Konkretisierung der Idee des Multikulturalismus, (2) die These der Kulturgebundenheit des modernen säkularen Staates und (3) das doppelte Gebot , einerseits die kulturelle Autonomie von Minderheiten vor dem Assimilationsbegehren der Mehrheit zu schützen, andererseits die Freiheit von Abweichlern und Nonkonformisten innerhalb dieser Gruppen ebenfalls zu bewahren.
1. Für Kymlicka ist die Politik des Multikulturalismus kein riskantes Experiment, das den Bruch mit dem modernen Staat und der internationalen Ordnung voraussetzt, sondern nur ein weiterer Schritt auf dem Weg, den das liberale Denken und die Praxis liberaler Staaten ohnehin schon seit Langem eingeschlagen haben. Der Multikulturalismus liegt in der Logik der Entwicklung der Menschenrechte, die von der Dekolonialisierung über die Aufhebung der Rassentrennung zur Gleichstellung von Minderheiten führt (vgl. Kymlicka 2007: Kap. 2 und 4). Im Einzelnen unterscheidet Kymlicka drei Formen gruppenspezifischer Rechte, die zusammengenommen dem Multikulturalismus eine fassbare Gestalt geben: politische Autonomierechte für nationale Minderheiten, »polyethnische« Sonderrechte für Einwanderergruppen, die es ihnen erlauben, ohne berufliche oder politische Nachteile ihre kulturelle Besonderheit auszudrücken, sowie besondere Repräsentationsrechte, wie sie etwa die dänische Minderheit in Schleswig-Holstein genießt, deren politische Partei bei Landeswahlen von der Fünf-Prozent-Hürde befreit ist. In der einen oder anderen Form sind solche Rechte in zahlreichen Staaten der Welt geläufig. Kanada ist keineswegs »einzigartig« (Kymlicka 1995: 27). Der Multikulturalismus ist für Kymlicka nicht eine Utopie, sondern das Einfache und Naheliegende, das außerdem auch noch leicht zu machen ist. Kanada, die USA, Australien oder Neuseeland mögen großzügiger sein als andere Staaten, aber Kymlicka sieht keine grundsätzliche Sonderstellung der klassischen Einwanderungsgesellschaften. In Deutschland dürfen Lehrerinnen zwar keine Kopftücher während des Unterrichts tragen, aber auch hier gibt es die Rücksichtnahme auf gruppenspezifische Bedürfnisse. So kann man, um triviale Beispiele zu nennen, bei Online-Buchungen bestimmter Fluglinien »moslemgerechte Sonderverpflegung« anklicken oder Hotels finden, die Gebetsmöglichkeiten anbieten und im Ramadan die Essensversorgung vor Sonnenaufgang und nach Sonnenuntergang garantieren. Das ist wenig, aber genug, um Kymlicka in seiner These zu bestärken, dass multikulturelle Flexibilität ein Alltagsphänomen moderner Demokratien ist und nicht ein politisches Fernziel.
Am überzeugendsten ist Kymlicka da, wo er die selbstverständliche Existenz einer Staatenwelt als Indiz für die Geläufigkeit von Gruppenrechten deutet. Wenn wir von der Gleichheit der Menschen sprechen, denken wir normalerweise an die Gleichheit von Bürgern. Bürger sind wir aber nur als Mitglieder einer partikularen politischen Gemeinschaft. Wir nehmen keinen Anstoß daran, dass wir bei der Passkontrolle an der Grenze zu einem anderen Land in einer anderen Schlange warten müssen als die Bürger dieses Landes, und dass wir häufig andere und höhere Ansprüche als diese erfüllen müssen, um einreisen zu können oder eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Wenn Nationen Gruppen sind, so Kymlicka, gehören gruppenspezifische Rechte zu den Selbstverständlichkeiten des globalen Alltagslebens, die überhaupt nicht im Widerspruch stehen zu individuellen Rechten (ebd.: 124–126). Die Welt als Ganze ist multikulturell und es kommt nur noch darauf an, auch innerhalb von Staaten das Eigenrecht von Gruppen stärker zu berücksichtigen, ohne die Einheit dieser Staaten zu gefährden.
2. Eine
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