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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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öffentlicher Philosophie vertritt Will Kymlicka, der jüngste der drei großen kanadischen Multikulturalismus-Theoretiker, eine in vieler Hinsicht gemäßigte und pragmatische Version des Multikulturalismus. Tullys Theorie beschwört die normbildende Kraft »spezifischer Kämpfe« von Völkern und Minderheiten, ohne zu zeigen, unter welchen Umständen und im Licht welcher Prinzipien eventuell auch solche Kämpfe es verdienen, kritisiert zu werden. Taylors Theorie erklärt, warum es zu tiefen moralischen Verletzungen führen kann, wenn von offizieller Seite versucht wird, die Sitten und Gewohnheiten ethnischer und religiöser Minderheiten zu unterdrücken oder ins Dunkel der Privatsphäre abzudrängen. Sie erklärt jedoch nicht, wie dieses Kränkungspotenzial so weit neutralisiert werden kann, dass das gewaltfreie Zusammenleben sichtbar heterogener kultureller Gemeinschaften funktioniert. Kymlickas Ausgangspunkt in seinem Schlüsselwerk Multicultural Citizenship (1995) ist die These, dass Taylor die konsensstiftende Kraft der Alltagskommunikation, die in kulturell pluralen Gesellschaften üblich ist, überfordert. So erwartet er als Resultat dieser Kommunikation, dass sich ein minimaler Konsens über die gemeinsam geteilten Werte und Normen des Gemeinwesens herausbildet. Aber ein solcher Konsens ist nicht das Resultat von Dialogen, sondern deren Voraussetzung.
    Der drohenden Überforderung sozialer Beziehungen durch unrealistische Konsenserwartungen begegnet Kymlicka mit dem Rückgriff auf das klassische liberale Ideal von Minderheitenrechten. In ausdrücklichem Widerspruch zu Taylor behauptet er, dass die Grenzen insbesondere von ethnischen Communities sich nicht schon deshalb verflüssigen, weil es einengruppenübergreifenden Konsens über gemeinsame Werte gibt. Quebecer und Anglokanadier, so sein Beispiel, teilen viele normative Überzeugungen, ohne dass darum die Minderheit der Quebecer aufhören würde, starke nationalistische Gefühle zu hegen (Kymlicka 1998: 152f.). Wie Taylor und Tully konzipiert auch Kymlicka den Multikulturalismus ausgehend von der kanadischen Situation einer ursprünglichen, nicht erst durch Einwanderung entstandenen Heterogenität. Wie bei Taylor kreist auch bei ihm das Denken um die politischen Möglichkeiten einer Verknüpfung von tiefen kulturellen Differenzen mit politischer Einheit und sozialem Zusammenhalt. Anders als Taylor sucht er jedoch eine Lösung nicht in interkulturellen Verständigungsprozessen, sondern in fairen Verfahren und liberalen Rechten.
    Die erste Operation, die Kymlicka bei dieser Suche ausführt, ist der Schnitt, der nationale Minderheiten von Einwanderern unterscheidet. Gerade für europäische Leser ist es wichtig, zu verstehen, dass Kymlicka sich zumindest zeitweise mehr für die erste als für die zweite Gruppe interessiert: mehr für das Los zum Beispiel von Südtirolern in Italien als für die Lage von Italienern in Deutschland. Er entwickelt seine Argumention über den Zusammenhang von Kulturen, Gruppen und Rechten am Beispiel von nationalen Minderheiten, nicht von Migranten. Im Kern lautet dieses Argument, dass Kulturen schützenswert sind, weil sie denen, die in ihnen aufwachsen, Handlungs- und Deutungsoptionen eröffnen, die als wegweisend und sinnstiftend erlebt werden können. Kymlicka geht noch einen Schritt weiter, indem er behauptet, dass eine sowohl orientierende wie freiheitsverbürgende Rolle nur die jeweils eigene »gesellschaftliche Kultur« (Kymlicka 1995: 76) erbringen kann. Nur da, wo wir zu Hause sind, vibriert die soziale Welt gleichsam vor lauter Bedeutungen. Die Zerstörung dieser Welt durch erzwungene Assimilation ist damit nicht nur, wie für Taylor, eine tiefe moralische Kränkung, sondern auch eine Freiheitsberaubung. Kymlicka beeilt sich, zu versichern, dass Kulturen veränderbar und porös sind. Er möchte Kulturen nicht als feste Rahmen oder Gehäuse interpretieren, sondern als gemeinsame »Vokabulare« (ebd.: 83). Man muss über ein solches Vokabular verfügen, um etwas zu haben, in das hinein neue Erfahrungen und Ideen integriert werden können.
    Vielleicht hilft die Analogie von Kultur und Muttersprache, um diesen Gedanken besser zu verstehen. Wer eine tradierte Muttersprache beherrscht, kann sich eine zweite Sprache aussuchen und diese lernen. Unsere Muttersprache beschränkt nicht unsere Fähigkeit, beliebige weitere Sprachen zu erlernen, sondern bildet die Voraussetzung dafür. Dies wiederum ist unabhängig von der Zahl der

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