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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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Migration eine Abweichung vom Ideal einer Welt sieht, in der alle Menschen in ihrer je eigenen und ihnen angemessenen gesellschaftlichen Kultur gedeihen. Zweitens gibt es ein soziologisches Defizit, das Kymlicka dazu verleitet, in staatlich vorsortierten Kategorien zu denken. Dies wird deutlich bei seinem Begriff der Minderheit, den er fälschlicherweise nur quantitativ und nicht auch symbolisch versteht. In Wirklichkeit ist jedoch der Status einer Minderheit nicht nur eine Frage der relativ kleinen Zahl, sondern häufig auch das Resultat einer rhetorischen Strategie der Minorisierung, die darauf zielt, einer bestimmten Gruppe aufgrund ihrer numerischen Schwäche eine untergeordnete, nur geduldete Position im gesellschaftlichen Raum zuzuschreiben und zugleich den Verdacht kultiviert, dass diese Gruppe, gemessen an der kleinen Zahl ihrer Mitglieder, zu viel Macht habe.
»Administrativer Artenschutz«: Habermas
    In Europa traf der Multikulturalismus von Anfang an nicht nur auf den Widerstand konservativer oder ethnozentrischer Verteidiger des homogenen Nationalstaats, sondern auch auf liberale Kritiker, die die Gefahr einer Erosion bürgerlicher Gleichheitsnormen durch die Inflationierung von Sonderregelungen zugunsten ethnischer Minderheiten beschworen. Der Klassiker dieser Ausprägung einer alteuropäisch-liberalen Kritik ist Brian Barrys Culture and Equality (2001). Der inzwischen verstorbene englische Professor, dem in Nachrufen eine große intellektuelle Rauflust bescheinigt wurde (»a great zest for academic brawls«), hatte die erfreuliche Neigung, sich außerordentlich klar auszudrücken, wenn es darum ging, sich gegen das zu stellen, was er für den Zeitgeist hielt. Die Pointe seines Buches besteht in dem Schluss (oder Fehlschluss) von der Unanfechtbarkeit des moralischen Universalismus (alle Menschen sind gleich) auf die Notwendigkeit uniformer Institutionen (für alle Menschen sollen ausnahmslos dieselben Regeln gelten). Wenn es gute Gründe gibt, den Walfang, das Schächten von Tieren oder das Motorradfahren ohne Helm zu verbieten, dann soll es keine Sonderregelungen geben dürfen für bestimmte Indianervölker, die schon immer Wale gejagt haben, für Muslime und Juden, die das Fleisch von unter Narkose getöteten Tieren verschmähen, oder für männliche Sikhs, denen ihre Religion vorschreibt, sich nicht ohne Turban in der Öffentlichkeit zu bewegen. Barry möchte den jeweils betroffenen Bürgern zumuten, sich in allen diesen Fällen zu entscheiden , was ihnen wichtiger ist, zum Beispiel Motorradfahren oder Turbantragen (ebd.: 46). Das Problem bei diesem Argument ist, dass religiöse Beweggründe wie beliebige andere Präferenzen behandelt werden, so als könne man sie je nach Situation einem Interessenkalkül unterwerfen.
    Diesen Punkt wird Habermas später anfechten, wenn er – ausdrücklich gegen Barry – die Eigenart religiöser Motive herausstellt. Zu Beginn der Debatte um den Multikulturalismus ist Habermas jedoch gar nicht so weit entfernt von der Position Barrys, die treffend als »liberaler Jakobinismus« (Levy 2004) bezeichnet worden ist. Um die Entwicklung von Habermas’ Position zum Problem des Multikulturalismus nachvollziehen zu können, ist es sinnvoll, systematische und zeitdiagnostische Motive zu unterscheiden.
    In systematischer Hinsicht ist zunächst ein knapper Hinweis auf Habermas’ allgemeine Demokratietheorie wichtig. In dieser Theorie sind interkulturelle Spannungen, die sich beispielsweise durch Masseneinwanderung ergeben können, eines jener »aufgestauten Probleme« (Habermas 1994:389) in den Niederungen der Gesellschaft, die dann »andernorts« (ebd.), nämlich auf der höheren Ebene vernünftiger Verfahren und Diskurse gelöst werden müssen. Die Ebenen von Kultur und Recht werden strikt getrennt, und Habermas lässt keinen Zweifel daran, dass er sich grundsätzlich mehr für die Architektur rechtlicher Verfahren und Diskurse interessiert als für die Eigenart und Herkunft der zu lösenden Probleme selbst. Anlass zu systematischer Sorge bereiten ihm Einstellungen und Verhaltensweisen, die sich dem vernünftigen Diskurs entziehen, weil sie in einer Sprache vorgetragen werden, die nicht allen Bürgern gleichermaßen zugänglich ist. Ein typischer Satz lautet: »Die Staatsbürgernation findet ihre Identität nicht in ethnisch-kulturellen Gemeinsamkeiten, sondern in der Praxis von Bürgern, die ihre demokratischen Teilnahme- und Kommunikationsrechte aktiv ausüben« (ebd.:

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