Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
the place where he began. Migration tore up all the traditional roots of the self. The rooted self flourished in a place it knew well, among people who knew it well, following customs and traditions with which it and its community were familiar, and speakingits own language among others who did the same. Of these four roots, place, community, culture and language, he had lost three.« (Rushdie 2012: 53)
Während der britische Schriftsteller Salman Rushdie an dieser Stelle plastisch die schmerzhafte Erschütterung schildert, die Migration für die Betroffenen bedeuten kann, betont Kymlicka, dass dieses Leid zudem noch einhergeht mit dem Verlust gewisser Rechte. Einwanderer sind keine Siedler. Amerikaner, die sich in Schweden niederlassen, so sein Beispiel, dürfen in ihrer neuen Heimat keine selbstregierten Kolonien bilden oder erwarten, bei Behörden auf Englisch bedient zu werden (Kymlicka 1995: 96). Einwanderer sind folglich zunächst einmal Personen, die bestimmte Rechte verwirkt haben, bevor sie – sofern sie das Glück haben, in einer multikulturellen Gesellschaft zu landen – neue Rechte erwerben, die ihrer besonderen Herkunft und Situation Rechnung tragen.
Kymlicka ist mit Recht für die beiden ungeprüften Annahmen kritisiert worden, die in seiner oben zitierten Definition der gesellschaftlichen Kultur enthalten sind: (a) dass es normalerweise nur diejenige gesellschaftliche Kultur ist, in die man hineingeboren wurde, die als moralische Ressource für die eigene Selbstachtung zählt, und (b) dass diese Kultur territorial gebunden ist. Kann man sich nicht auch in einer zunächst fremden Kultur mental einrichten oder aber die alte Kultur woanders weiterleben, etwa so wie für Heinrich Heine die Thora ein Vaterland zum Mitnehmen war? Wenn das Leben dadurch sinnvoll wird, dass wir es »von innen her« (ebd.: 81) leben, wie Kymlicka ähnlich wie Taylor formuliert, welche Bedeutung haben dann noch territoriale Grenzen? Die extreme Gegenthese zu Kymlicka würde lauten, dass man sich heute die eigene gesellschaftliche Kultur beliebig ortsunabhängig und unterstützt vom Internet zusammenbasteln kann. 23 Aber auch wer eine solche Utopie (oder Antiutopie) verwirft, muss darum noch nicht Kymlickas Kulturbegriff teilen, der nicht frei ist von einer gewissen Idealisierung territorial gebundener Kollektivkulturen.
Mein Resümee lautet wie folgt. Kymlicka korrigiert den eingangs von mir erwähnten kanadischen Mythos der Äquivalenz von indianischen Ureinwohnern und Einwanderern, der »Ersten«, die die »Letzten« sein werden (und umgekehrt). Die von Anne Phillips vorgebrachte Kritik an den kanadischen Theoretikern, dass sie dazu neigten, das Leitbild besonderer kollektiver Rechte für indianische Minderheiten auf Einwanderergruppen zu übertragen und dadurch falsche Analogien herzustellen, trifft auf diesen Autor nicht zu (Phillips 2009: 64f.). Durch die Unterscheidung von nationalen Minderheiten und Migranten gelangt Kymlicka zu einer Konzeption des Multikulturalismus, die philosophisch weniger komplex, dafür aber realistischer und politiknäher ist als diejenige Taylors. Dies zeigt sich in der Präferenz für das konventionelle Vokabular des Liberalismus: subjektive Rechte und Toleranz treten an die Stelle von Anerkennung und starken Wertungen. Kymlicka liefert Kategorien und Unterscheidungen, die es uns ermöglichen, bestimmte multikulturelle Konflikte überhaupt vernünftig zu diskutieren. Wer nicht von vornherein für Assimilation ist, muss einzelne Maßnahmen, zum Beispiel das Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen, daraufhin befragen, ob sie dem Schutz von Frauen vor den Autoritäten innerhalb der muslimischen Minderheit dienen oder der pauschalen Maßregelung und Verächtlichmachung dieser Minderheit. Hinzufügen möchte ich, dass Kymlicka trotz seiner Verteidigung des modernen Nationalstaats aus kontinentaleuropäischer Sicht extrem großzügig ist, was man etwa daran erkennen kann, dass er die »separaten Institutionen« (Kymlicka 1995: 170) – auf neudeutsch: die Parallelgesellschaften – von Mennoniten oder ultraorthodoxen Juden in Nordamerika ausdrücklich vor der Allzuständigkeit des Staates bewahren möchte.
Zwei Probleme bleiben ungelöst: Erstens fehlt ein flexibler und kommunikationsoffener Kulturbegriff, der nicht zu eng an bestehende Gruppen oder territoriale Räume gebunden ist. Kymlicka ist ein durchaus merkwürdiger Multikulturalist, weil er bereits in der bloßen Tatsache der
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