Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
weitere These, die Kymlicka mit großer Überzeugungskraft vorträgt, ist die der Kulturgebundenheit des modernen säkularen Staates. Damit ist nicht gemeint, dass Staaten ihren Prinzipien zuwiderhandeln und manchmal tendenziöse Gesetze oder Verordnungen erlassen, die bestimmte kulturelle Gruppen in der Gesellschaft bevorzugen und andere benachteiligen. Vielmehr argumentiert Kymlicka, dass auch der genuin neutrale Staat nicht anders kann als eine dominante Landessprache zu institutionalisieren, gesetzliche Ruhe- und Feiertage zu bestimmen oder staatliche Symbole zu pflegen, die den Bedürfnissen und dem Selbstverständnis bestimmter nationaler oder ethnischer Gruppen entsprechen. Er fügt hinzu, dass das Verhältnis von Staat und Kultur anders sei als das von Staat und Religion. Der Staat könne sehr wohl ohne den privilegierten Bezug auf eine etablierte Religionsgemeinschaft funktionieren, nicht jedoch ohne beispielsweise eine offizielle Sprache,die vor Gericht, in der Verwaltung und in öffentlichen Schulen verbindlich sei (ebd.: 111). Die Idee eines »kulturellen Marktplatzes« (ebd.: 108), auf dem allen am meisten damit gedient ist, dass sich der Staat heraushält und keine Gruppe ausdrücklich fördert, ist daher irreführend. Der Staat ist immer schon Teil des kulturellen Geschehens einer Gesellschaft.
Völlige kulturelle Neutralität ist eine Fiktion, über deren kulturgeschichtliche Herkunft man spekulieren könnte. Eine Hypothese wäre, dass diese Fiktion etwas zu tun haben könnte mit der protestantischen Idee, dass Christus für die Abstreifung und Überwindung jeder partikularen kulturellen Bindung eintritt. 22 Dieser Gedanke steht im Gegensatz zur zentralen Argumentationslinie des Multikulturalismus, deren Vertreter umgekehrt für Rechte und Maßnahmen plädieren, die über die allgemeinen Bürgerrechte hinausgehen und den partikularen kulturellen Sitten und Gewohnheiten von nationalen Minderheiten und Zuwanderern entgegenkommen. Dies geschieht, indem bestimmte »kulturelle Praktiken oder Vereinigungen« (ebd.: 107) nicht nur vor Eingriffen geschützt, sondern auch gezielt begünstigt werden. Der Zweck von solchen selektiven, gruppenspezifischen Begünstigungen ist es, die Voraussetzungen dafür zu erhalten, dass sich alle Mitglieder der Gesellschaft tatsächlich als Freie und Gleiche gegenübertreten können.
3. Ganz im Gegensatz zu einer heute gängigen Polemik gegen den Multikulturalismus ist Kymlicka weit davon entfernt, indianische oder andere Minderheiten zu romantisieren. Vielmehr lautet eine seiner Prämissen, dass es zutiefst »illiberale Kulturen« (ebd.: 94) gibt, die in deutlich liberaleren Umwelten überleben oder durch Migration in liberale Aufnahmegesellschaften eindringen können. Wenn dies zutrifft, stellt sich die Frage, wie sich die Integrität illiberaler kultureller Gruppen schützen lässt, ohne deren Angehörige den tonangebenden Kräften dieser Gruppen auszuliefern. Denn daran, dass auch illiberale kulturelle Gruppen geschützt zu werden verdienen, lässt Kymlicka keinen Zweifel, weil er davon überzeugt ist, dass sich Personen nur ausgehend von ihrer jeweils eigenen Kultur die Welt erschließen und frei sein können. Die Assimilation illiberaler Gruppen an von außen gesetzte Freiheitsstandards betrachtet er folglich als inkonsistent, da sich die Neigung zur Freiheit nicht erzwingen lasse. Dabei bemüht er die Analogie zu souveränen Staaten. So wie es ein Gewaltverbot gibt, das liberale Staaten davon abhalten soll, nach Gutdünken in autoritären Staaten einzugreifen, so darf eine Zentralregierung auch nicht in die Belange von nationalen Minderheiten eingreifen, sofern nicht Hinweise auf massive Menschenrechtsverletzungen vorliegen.
Welche Optionen bleiben dann aber übrig, um illiberale Gruppen zu liberalisieren, ohne sie zu assimilieren? Kymlicka nennt drei: die Selbstüberprüfung der liberalen Beobachterposition, Überzeugungsmaßnahmen und Dialog sowie, im Extremfall, Zwangsmaßnahmen. Zum ersten Punkt: Liberale neigen häufig zur Schwarz-Weiß-Malerei und versäumen es, illiberale Kulturen oder Gruppen auf versteckte liberale Anteile und Entwicklungsmöglichkeiten zu befragen. Dies ist im Grunde ein Argument gegen die Essentialisierung von Kulturen, aber auch dagegen, das Illiberale immer nur bei den Minderheiten zu suchen, so als gäbe es keine illiberalen Mehrheitskulturen. Kulturelle Gruppen sind nicht aus einem Guss und nicht durchgehend »illiberal« oder
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