Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Anpassungsleistung dort, wo sie gelingt, als kontingentes Ergebnis von innerreligiösen Lernprozessen, von denen er inzwischen nicht mehr annimmt, dass sie abgekürzt werden durch die List einer »fortschreitenden kulturellen und gesellschaftlichen Modernisierung« (Habermas 2005a: 145), die als archaisch verdammte religiöse Relikte einebnet und zermalmt. Die säkulare, sich aufgeklärt dünkende Bevölkerung hat keinen Grund mehr, die geschichtlichen Mächte der Modernisierung allesamt auf ihrer Seite zu sehen.
Habermas gibt zugleich zu bedenken, dass der vernünftigerweise erwartbare »Mentalitätswandel« (ebd.: 146), den säkulare Bürger bei der Neubestimmung ihrer Beziehungen zu religiösen Mitbürgern vollziehen müssen, nicht weniger anspruchsvoll ist als die Selbstbeschränkung, die umgekehrt religiösen Gemeinden in demokratischen Verfassungsstaaten aufgebürdet wird. Dieser Einschätzung entspricht die Warnung vor der in Kontinentaleuropa inzwischen wohl mehrheitsfähigen Neigung, sich durch »rationalistische Anmaßung« (ebd.: 149) über religiöse Minderheiten zu erheben, insbesondere über solche, deren Anhängerschaft durch Zuwanderung wächst. Radikale Laizisten begehen den Fehler, ihre Einstellungsmuster unter Berufung auf die Naturwissenschaften zu umfassenden »säkularen Weltbildern« (ebd.: 147, Fn. 48) auszubauen, die ebenso wie religiöse Überlieferungen fundamentalistische Züge annehmen können. 26
Zentral ist der Gedanke, dass sich Gläubige, Andersgläubige und Nichtgläubige nicht nur widerwillig damit abfinden sollen, ihre Differenzen nicht überwinden zu können. Vielmehr sollen sie diesen Zustand unaufhebbarer Pluralität aus Einsicht in die mögliche Begrenztheit und Fehlbarkeit der eigenen Einstellung akzeptieren anstatt ihn lediglich der Verbohrtheit undIrrationalität der jeweils anderen Seite zuzuschreiben. Genau dies versteht Habermas unter politischer »Toleranz«. Die säkularen Bürger sollen sich auf die gläubigen Muslime, Juden und Christen in ihrer Mitte einstellen und einlassen, obgleich ihnen der Glaube, aus dem heraus diese leben, » abgründig fremd « bleiben muss – ebenso wie umgekehrt für Gläubige der Erfahrungskern zum Beispiel einer ästhetischen Daseinsform »undurchdringlich« ist (ebd.: 150; meine Hervorhebung).
4. Während sich Habermas in den genannten drei Punkten – Kritik des Laizismus, Schrittmacherrolle des religiösen Pluralismus für die Gleichberechtigung von Minderheiten, Notwendigkeit von Mentalitätsänderungen – auf Grundpositionen des Multikulturalismus von Taylor und Kymlicka zubewegt, bleibt seine Haltung in der Frage der Bewertung kultureller Gruppenrechte skeptisch. Die Verteidigung solcher Rechte, bei denen es um die »Selbstbehauptung gefährdeter Kulturen« zum Beispiel von nationalen Minderheiten oder Ureinwohnern geht, ist für ihn das Kennzeichen eines übertrieben »starken« Multikulturalismus (Habermas 2005c: 307, 311). Auch hier akzeptiert Habermas freilich die Prämisse Kymlickas, dass heranwachsende Individuen auf ein dichtes Netz von Beziehungen angewiesen sind, von denen man sagen kann, dass sie eine gemeinsam geteilte »Kultur« konstituieren: »Neugeborene kommen organisch unfertig auf die Welt und bleiben lange extrem abhängig von der Pflege anderer Personen. Nur als Mitglieder kultureller Gemeinschaften können sie sich zu Personen entwickeln« (ebd.: 306). Kulturelle Rechte dienen dazu, so fährt er fort, durch die Gewährung von »Organisationsbefugnissen und Selbstverwaltungskompetenzen« (ebd.: 307) jene gemeinsame Kultur zu schützen. Eine kritische Schwelle sieht Habermas allerdings dann für überschritten, wenn der Schutz kultureller Gemeinschaften auch gegen deren Mitglieder betrieben werden soll. Damit sind wir wieder beim Motiv des administrativen Artenschutzes angelangt, das Habermas noch einmal am Beispiel der kanadischen Provinz Quebec durchspielt. Habermas sieht den Fehler Taylors darin, dass er allzu weitgehende Eingriffsrechte der Regierung in die Angelegenheiten der Bürger rechtfertigt. Die Verteidiger der Autonomie Quebecs rechtfertigen unter anderem staatliche Eingriffe »in die Elternrechte ihrer frankophonen Bevölkerung«, indem sie die Bürger verpflichten, »ihre Kinder, ungeachtet möglicher Präferenzen für eine Ausbildung auf englischsprachigen Institutionen, auf französische Schulen zu schicken« (ebd.: 312).
Für Habermas handelt es sich hierbei um den exemplarischen Fall einer
Weitere Kostenlose Bücher