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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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ausschließenden Charakter und das Kränkungspotenzial einer zu restriktiven Institutionalisierung des Säkularismus. Vermutlich als Reaktion auf eine Kritik von Taylor spricht er nicht länger davon, dass in der politischen Öffentlichkeit (anders als im Parlament oder vor Gericht) nur rationale und empirisch nachvollziehbare Argumente zählen dürfen, die für alle Bürger gleichermaßen nachvollziehbar sind. Vielmehr betont er, dass auch solche Redegenres, die sich aus den religiösen Überlieferungen einer kulturell pluralen Gesellschaft speisen, ihren Platz im öffentlichen Diskurs haben. Dasselbe gilt für nonverbale Ausdrucksformen wie etwa das religiös konnotierte Tragen von Kopftüchern, das Habermas in einer ausdrücklichen Kritik an der französischen Verbotspraxis auch an Schulen und Universitäten freigeben möchte (ebd.: 273f.). Warum birgt ein restriktiver Säkularismus, der dem Staat die Aufgabe zuschreibt, säkulare Werte in der Gesellschaft durchzusetzen, ein besonderes Missachtungspotenzial? Die Antwort lautet, dass der religiöse Glaube die Tendenz haben kann, die gesamte Existenz der jeweiligen Personen und Gruppen zu durchdringen. Der Glaube ist manchmal nicht nur »Doktrin«, sondern auch »Energiequelle« (Habermas 2005a: 133) und organisierendes Zentrum von Lebensformen, die Habermas nicht länger auf dem Weg sieht, automatisch vom Modernisierungsprozess »erfasst und zermahlen« zu werden.
    Die neue Lage nimmt Habermas zum Anlass, die Idee eines einzigen Modells der rationalen Verständigung durch die Annahme einer Vielzahl von »Sprachen« zu revidieren, die von säkularen, gläubigen und andersgläubigen Bürgern gesprochen werden und Probleme der wechselseitigen » Übersetzung « aufwerfen. Diese Pluralisierung bedeutet zunächst, dass die Erwartung, fromme Bürger müssten ihre religiösen Überzeugungen in der Öffentlichkeit verleugnen oder in die Sprache von Nichtgläubigen übersetzen, zurückgewiesen wird. Ein solcher Übersetzungszwang würde das Prinzip der institutionellen Trennung von Staat und Religion zu restriktiv auffassen und einer bestimmten Gruppe von Bürgern, nämlich den Gläubigen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften eine »unzumutbare mentale und psychologische Bürde « (ebd.: 135) auferlegen. Habermas leistet hier das, was er von den Bürgern selbst erwartet, nämlich eine Perspektivenübernahme. Dieser Zugang unterscheidet ihn von der Position eines rationalistischen Beobachters, der die Gesellschaft nur von außen beurteilt. Seine Begründung rückt stattdessen das Gewicht subjektiv gefühlter »existenzieller Gewissheiten« (ebd.) in den Mittelpunkt, und zwar in einer Weise, die Taylor kaum deutlicher hätte formulieren können.
    In einem zweiten Schritt beharrt Habermas allerdings auf den »institutionellen Schwellen« (ebd.: 137) der staatlichen Körperschaften, jenseits derer religiöse Gruppen eine Sprache sprechen müssen, die auch für Nicht- und Andersgläubige verständlich und akzeptabel ist. In sorgfältigen Formulierungen achtet Habermas dabei auf zweierlei: erstens darauf, dass die notwendige »Übersetzungsarbeit« (ebd.) von Religionsgemeinschaften, die gleichsam eine öffentliche Zweitsprache erwerben müssen, wenn sie auch Nichtgläubige oder staatliche Instanzen zum Beispiel für eine Kampagne gegen Blasphemie gewinnen wollen, die religiöse Erstsprache nicht entwerten soll; und zweitens, dass Nichtgläubige nicht ausschließen dürfen, von Gläubigen etwas lernen zu können. Zu ergänzen wäre noch, dass bei der interkulturellen Übersetzungsarbeit tatsächliche oder scheinbare Übersetzungsfehler auftreten können, etwa wenn Muslime ein für Liberale und Protestanten nicht nachvollziehbares Religionsverständnis reklamieren, das nicht zwischen Gläubigen und Glaubenssätzen (»persons« and »beliefs«) unterscheidet. Solche Situationen führen dann zu Metadialogen, bei denen sich grundsätzliche Unvereinbarkeiten zwischen unterschiedlichen Vorstellungen des sozialen Zusammenlebens herausschälen können (vgl. March 2012).
    Im Zusammenhang seiner Diskussion des Säkularismus verwendet Habermas auch wieder die Artenschutz-Metapher, allerdings mit einer ganz anderen Stoßrichtung als früher. Er kritisiert jetzt nämlich die säkularistische Einstellung derer, »die Religionsfreiheit nur als kulturellen Naturschutz für aussterbende Arten verstehen« (Habermas 2005a: 145). Während das Bild vom staatlichen Artenschutz früher auf die

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