Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Kulturen werden in den »gefestigten Demokratien des Westens« (ebd.: 261) durch den Grundrechtekatalog geschützt; und um die verbleibenden gewaltbereiten Fundamentalisten kümmert sich die Polizei. Damit schien die Sache für Habermas erledigt zu sein. Erst in einigen jüngeren Beiträgen, die nach der Jahrtausendwende entstanden und in dem Band Zwischen Naturalismus und Religion erschienen sind, taucht das Thema unter neuem Vorzeichen wieder auf. Motiviert wird diese neue Runde der Beschäftigung mit kultureller Vielfalt durch zwei Phänomene: erstens durch die große Zahl öffentlicher Streitfälle, in denen es um solche Sitten und Gewohnheiten von Minderheiten geht, die gemeinhin als religiös markiert werden – ein Umstand, der bereits Kymlicka (1998: 30f.) veranlasst hat, seinen Begriff der polyethnischen Rechte am Beispiel religiöser Praktiken zu formulieren; und zweitens durch die Beobachtung, dass die großen Religionen weltweit an Gewicht gewonnen haben und einen ernst zu nehmenden Faktor der politischen Mobilisierung darstellen. Während sich die Vereinigten Staaten in dieser Hinsicht im Einklang mit einem mächtigen globalen Trend fühlen dürfen, scheinen allein die Länder Kontinentaleuropas durch ihr Beharren auf einer laizistisch zugespitzten Version des Säkularismus eine Sonderrolle einzunehmen (Habermas 2005a: 119–123). Diese für Habermas beunruhigende Diagnose bewegt ihn allerdings keineswegs dazu, Europa einfach gegen denRest der Welt zu verteidigen. Vielmehr unternimmt er es, den Säkularismus selbst kritisch zu befragen.
Diese kritische Prüfung hat einen doppelten Sinn. Erstens möchte Habermas »die religionsfreundliche Pointe der weltanschaulichen Neutralisierung des Staates« (ebd.: 124) in Erinnerung rufen und bekräftigen. Religionsfreundlich heißt zugleich: minderheiten- und dissidenzfreundlich. Zweitens interessiert ihn »die Grenze« (ebd.: 129), jenseits derer die freiheitssichernde Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften gefährdet wird. Der Zweck der Trennung von Staat und Kirche (bzw. Moschee oder Synagoge) besteht in der Zumutung an staatliche Instanzen, nur solche Gesetze, Maßnahmen und Urteile zuzulassen, die in einer allen Bürgern gleichermaßen zugänglichen Sprache gerechtfertigt werden können. Das bedeutet, dass Gesetze und Gerichtsurteile nicht religiös begründet werden dürfen. Religiös begründete, aber staatlich durchgesetzte Abtreibungs- oder Blasphemieverbote wären demnach mit der von Habermas verteidigten religionsfreundlichen Variante einer säkularen Verfassung nicht vereinbar. Dies wiederum heißt nicht, dass nicht auch Gläubige in ihrer jeweils eigenen Sprache auf die regulativen Institutionen der Gesellschaft Einfluss nehmen dürften. Die wichtigste Hoffnung jedoch, die Habermas mit der Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften verbindet, besteht in der Öffnung der Gesellschaft für eine Vielfalt religiöser und weltanschaulicher Überzeugungen, die unter günstigen Umständen nicht nur eine Verständigung zwischen »säkularen« und »religiösen« Bürgern, sondern auch zwischen diesen beiden und »andersgläubigen« Bürgern befördert (ebd.: 137). Von Kymlicka unterscheidet sich Habermas weiterhin dadurch, dass er die Rechte religiöser Minderheiten wie etwa der Muslime in Europa nicht in Begriffen von Ausnahmeregelungen formuliert, sondern als Grundrechte, die im Kollisionsfall einfache Gesetze übertrumpfen. Außerdem möchte er überhaupt dem Problem der Religion mehr Raum geben als Kymlicka, der Religion als Generator von Differenz vernachlässigt (so auch die Kritik von Modood 2007: Kap. 2).
Der Umweg über die Religionspolitik dient dem Ziel, zur angemessenen Bestimmung eines »richtig verstandenen Multikulturalismus« (Habermas 2005b: 263f.) beizutragen und in diesem Zusammenhang auch die Schriften von Taylor und Kymlicka neu zu bewerten. Habermas’ Formulierungen dienen dabei nicht der Ausrufung einer radikal neuen Moderne, sondern aktualisieren den Begriff der »religious liberty«, den James Madison und die amerikanischen Revolutionäre des 18. Jahrhunderts gegen die älteren Konzepte asymmetrischer, von oben herab gewährter »Toleranz« eingeführt hatten (vgl. Beneke 2006). Im Folgenden nenne ich drei Punkte, bei denen Habermas über seine ältere skeptische Einstellung zum Multikulturalismus hinausgeht, sowie einen vierten Punkt, bei dem er seiner früheren Position treu bleibt.
1. Der späte Habermas erkennt den
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