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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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kanadischen Multikulturalisten gemünzt war, denen vorgeworfen wurde, zum Untergang verurteilte vormoderne Lebensformen künstlich am Leben erhalten zu wollen, kehrt sich in den späten religionspolitischen Texten der Sinn jenes Bildes um: Die radikalen Säkularisten französischer Prägung suggerieren fälscherlicherweise das bevorstehende Aussterben von Überzeugungen und Existenzformen, über deren Vitalität wir jedoch gar nicht genug wissen, und deren Niedergang wir nicht künstlich dadurch beschleunigen dürfen, dass wir sie in das Reservat einer vom öffentlichen Diskurs abgespaltenen Privatsphäre einsperren.
    2. Die Kehrseite der Kritik säkularistischer oder laizistischer Auffassungen der Trennung von Staat und Religion besteht in der Hervorhebung des B efreiungspotenzials eines religiösen Pluralismus. Zwei Hinweise lassen sich dabei unterscheiden. Zunächst stoßen wir auf die außerordentlich optimistische Annahme, dass die Interpreten religiöser Traditionen der Gesellschaft immer dann etwas mitzuteilen haben, wenn es um »politische Fragen« (ebd.: 137) der humanen Ausgestaltung des menschlichen Zusammenlebens geht. Habermas nennt das Beispiel des Baptistenpredigers Martin Luther King und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die er als einen exemplarischen und »erfolgreichen Kampf für eine erweiterte Inklusion von Minderheiten und Randgruppen« (ebd.: 130) beschreibt. Hier wird ein unmittelbarer Zusammenhang hergestellt zwischen der Religionsfreiheit, der Vitalität religiöser Traditionen und der Fähigkeit marginalisierter Gruppen, sich mittels einer religiös eingefärbten Sprache in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Habermas lässt allerdings offen, ob religiöse Überlieferungen moderne Kämpfe für Inklusion begründen können oder durch die Einspeisung zusätzlicher Motive lediglich intensivieren.
    Ein zweites Argument betont die motivierende Rolle der Gleichberechtigung »religiöser Minderheiten« (a) für den Kampf anderer diskriminierter Minderheiten sowie (b) für die »Einführung weiterer kultureller Rechte«, die über die Beseitigung religiöser Diskriminierung hinausgehen (Habermas 2005b: 274; meine Hervorhebung). Diese Überlegung passt zwar nicht zu dem Beispiel Martin Luther Kings, der ja nicht als Fürsprecher einer religiösen Minderheit auftrat, erlaubt es Habermas aber, die prominenten Streitfälle um Turbane, Kopftücher und andere Zeichen, die die liberale politische Theorie ebenso wie die Gerichte in der jüngeren Vergangenheit beschäftigt haben, in ein neues Licht zu setzen. Diese Wendung mündet nicht nur in ein Plädoyer für die erhöhte Sensibilität von Gesetzgebung und Rechtsprechung gegenüber den Belangen von religiösen und anderen Minderheiten, sondern unterstreicht auch die Signalfunktion jeder staatlichen Entscheidung auf diesem Gebiet. Die Stärkung des religiösen Pluralismus eröffnet die Aussicht auf die Gewährung weiterer kultureller Rechte für Minderheiten und Neuankömmlinge, während umgekehrt der restriktive Säkularismus und die Vorherrschaft einer staatlich sanktionierten Mehrheitskultur alle Anstrengungen frustrieren müssen, die auf eine vollständige Inklusion jener Gruppen in das Gemeinwesen zielen.
    3. Habermas modifiziert außerdem seine ältere Kritik am Multikulturalismus dadurch, dass er über die Verwirklichung von Rechten hinaus auf eine Veränderung von Mentalitäten drängt, die sich im vorpolitischen Raum bilden und nicht durch das Rechtsmedium direkt geformt werden können.Die in Mentalitäten zu verankernde »Achtung für das Ethos der Anderen« (ebd.: 269) avanciert zu einer zentralen Kategorie. 25 Ein solches Ethos wird zunächst religiösen Bevölkerungsgruppen aller Bekenntnisse abverlangt, denen zugemutet wird, die Prämissen des säkularen Verfassungsstaates in die eigene Glaubenspraxis einzubauen. Mit Blick auf den Multikulturalismus heißt das: Religiöse Minderheiten, etwa europäische Muslime, sollen dieselbe Bewegung nachvollziehen, die auch Christen zugemutet worden ist, indem sie darauf verzichten, ihre Sonderethik durch positives Recht für die gesamte Gesellschaft verbindlich machen zu wollen. Die Bürde ergibt sich »nicht aus einer Relativierung eigener Überzeugungen, sondern aus der Einschränkung ihrer praktischen Wirksamkeit« (ebd.: 268), die nämlich ihre Grenze am Ethos der Nichtgläubigen und Andersgläubigen findet. Im Gegensatz zu seiner früheren Position begreift Habermas eine solche

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