Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Schutz auf deren hierarchische Binnenverhältnisse ausgedehnt werden darf. Diese Position, die liberale Motive mit einer erhöhten Sensibilität für kulturelle Bedeutungen verbindet, definiert Freiheit als relationale Autonomie. Individuelle Freiheit ist demnach mehr als die Möglichkeit der Abwanderung und des Ausstiegs aus der Herkunftskultur. Um in einem sozialen Sinn frei zu sein, sind Individuen vielmehr auf kulturelle und andere Beziehungen und Ressourcen angewiesen, die sie vorfinden und sich zunutze machen können.
Susan Okin
Den Anfang machte Susan Moller Okin, als sie die Frage stellte: »Is Multiculturalism Bad for Women?« (Okin 1999). Okin sieht folgendes Dilemma: Wenn Assimilation von Einwandererkulturen an die Standards einer liberalen Lebensform als Unterdrückung gewertet wird, bestimmte Einwandererkulturen jedoch die Unterdrückung »ihrer« Frauen für normal halten, haben Liberale nur die Wahl zwischen zwei Sorten von Unterdrückung. Assimilation wäre ein Prozess der Unterdrückung von Unterdrückern; Multikulturalismus umgekehrt eine Form der Toleranz, deren Preis Frauen zu bezahlen hätten. Neben der Polygamie, der weiblichen Genitalverstümmelung und dem erzwungenen Tragen von Kopftüchern nennt Okin eine Reihe weiterer repressiver Praktiken, von denen sie sagt, dass sie sich im Zuge der Einwanderung in westlichen Staaten ausbreiten und durch multikulturelle Gruppenrechte tabuisiert werden könnten: Zwangsheiraten, gemeinsam arrangierte Selbstmorde von Eltern und Kindern und verschiedene Formen von Ehrenmorden. Diese Praktiken werden jeweils bestimmten Einwanderergruppen aus Herkunftsregionen in Südostasien, Südasien, Japan und China sowie dem Nahen Osten zugeschrieben.
Okin ist gleichwohl etwas vorsichtiger als einige jüngere deutschsprachige Autorinnen, da sie nicht eine bestimmte Religion wie den Islam zur singulären Quelle aller verabscheuungswürdigen Praktiken erklärt. Allerdings glaubt auch sie, dass westliche liberale Kulturen ihre eigenen patriarchalen Grundlagen deutlicher als andere thematisiert und teilweise überwunden haben, und dass sich daraus bestimmte Konsequenzen ergeben für das Verhältnis von Geschlechterpolitik und Interkulturalität. Dies ist der Weg, den sie vorschlägt: Kulturen sollten entweder von innen so verändert werden, dass sie sich mit Gleichheitsnormen vertragen, oder aber »aussterben«: »Indeed, they [die Frauen] might be much better off if the culture into which they were born were either to become extinct (so that its members would become integrated into the less sexist surrounding culture) or, preferably, to be encouraged to alter itself so as to reinforce the equality of women – at least to the degree to which this is upheld in the majority culture« (ebd.: 22f.; meine Hervorhebung). Okins Argumentation beruht auf einer bestechend einfachen binären Logik, die sich zudem noch auf empirische Belege zu stützen scheint. Sowohl gegen die Dualismen ihres Textes (liberal/autoritär, Einheimische/Einwanderer, Mehrheit/Minderheit usw.) als auch gegen deren empirische Unterfütterung sind allerdings in der Folge zahlreiche Einwände gemacht worden. 27 Ich fasse die wichtigsten dieser Einwände zusammen:
1. Als Grund für Gewalt gegen Frauen in außereuropäischen Regionen und Einwanderermilieus führt Okin die jeweilige »Kultur« an, teilweise auch deren Religion; westliche Formen dieser Gewalt werden dagegen als Abweichungen von den Normen einer inzwischen gereiften westlichen Kultur gewertet. Okin bedient damit ein populäres Vorurteil, das man wie folgt auf den Punkt bringen kann: Das gewalttätige Verhalten getaufter Männer gegenüber Frauen wird nicht mit dem Christentum oder der westlichen Kultur erklärt, sondern als abweichend und pathologisch bewertet; das gewalttätige Verhalten beschnittener oder sonstwie andersgläubiger Männer erscheint stattdessen als Ausdruck von uralten Traditionen und einheimischer Kultur. Diese Kombination aus Kulturblindheit und Überkulturalisierung ist von vielen Kommentatoren als willkürlich und denkfaul kritisiert worden.
2. Die repressive Kultur der anderen erscheint bei Okin als reine Männersache, während die Frauen als unschuldige Opfer keinen aktiven Anteil an jener Kultur haben und in einem transhistorischen Naturzustand zu verharren scheinen. Dies erinnert an die sexistischen Zwangsvorstellungen zum Beispiel britischer Kolonialbeamter, die sich zu ihrer Zeit Inderinnen aus dem einfachen Volk
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