Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
gerne als engelhafte, unschuldige Naturwesen vorstellten (vgl. Metcalf 1995: 184). Okins gespaltenes Frauenbild mündet in der Konstruktion eines Dreiecksverhältnisses zwischen männlichen Tätern, weiblichen Opfern (beide im globalen Süden) und befreiten Frauen im Westen, die sich ihren ohnmächtigen Schwestern als Leitbilder empfehlen.
3. Zwar beschreibt Okin Kulturen nicht als zeitlos und homogen, aber sie legt doch den Schluss nahe, dass einige Kulturen homogener sind als andere, sich wesentlich zähflüssiger entwickeln und ihren weiblichen Opfern nur die Option des Ausstiegs und des radikalen Bruchs lassen. Okin bestätigt den Sexismus patriarchaler Männer in außereuropäischen Kulturen, denen es darum geht, ihre eigenen Mitbürgerinnen, sofern sie sich selbstbewusst und »modern« gebärden, kulturell auszubürgern und als Fremde auszuschließen. Die Ironie ihres Textes liegt darin, dass sie das Bild traditioneller Kulturen, wie es von ihren zumeist männlichen Interpreten entworfen wird, für bare Münze nimmt. Zwar ist es richtig, dass zum Beispiel indische Männer häufig tatsächlich so denken, wie liberale Feministinnen im Westen behaupten, dass sie denken (vgl. exemplarisch Ghose 2013). Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Männer als glaubwürdige Anthropologen ihrer eigenen Regionalkultur ernst genommen werden sollten.
4. Okin stellt sich Kulturen wie Vulkane vor, die einfach gegeben sind, und nicht als Netze von Bedeutungen, an denen dauernd weitergesponnen wird. Zugleich bezeichnet sie bestimmte Praktiken als »kulturell«, die dieses Attribut gar nicht oder nur in einem erst noch zu klärenden Sinne verdienen. Okins Kulturbegriff ist zu starr und zu umfassend. Ignoriert werden Faktoren wie soziale Ungleichheit oder die Erosion von gesellschaftlichen Strukturen und Beziehungen durch den globalen Kapitalismus, die Kulturindustrie oder den religiösen Fundamentalismus. Kulturelle Verhaltensmuster sind nicht ein zeitloses Kennzeichen inselhafter Gemeinschaften, sondern werden durch eine Vielzahl von Umständen geprägt.
Okins stilbildendes Schema »Gleichheit vs. Kultur« ist in verschiedenen Feldern einflussreich geworden. So hat Sally Engle Merry (2003) auf die »Dämonisierung« von Kultur im internationalen Diskurs der Menschenrechte hingewiesen, in dem sich bis hin zur Sprache zum Beispiel der Frauenrechtskonvention der Vereinten Nationen ein statischer und holistischer Kulturbegriff nachweisen lässt, der in Gegensatz gebracht wird zum Begriff moderner Rechte. Michelle McKinley (2009) hat gezeigt, welche Rolle essentialistische Konstruktionen der »afrikanischen Kultur« in den Begründungen von asylrechtlichen Entscheidungen in den USA zugunsten von Frauen spielen, die als Gegnerinnen oder Opfer ritueller Genitalbeschneidungen auftreten. Ilse Lenz (2010) schließlich hat die Wirksamkeit eines »ethnozentrischen Feminismus« beklagt, der sich etwa in der populären europäischen Kritik am Islam zeigt sowie den Ansätzen, das Verhältnis der halbwegs befreiten Frauen des Westens zu ihren kulturell unterdrückten Schwestern in anderen Erdteilen in den Begriffen eines imperialen Maternalismus zu beschreiben.
Ayelet Shachar
Liberale feministische Positionen in der Nachfolge von Okin nenne ich »einfach«, weil sie Freiheit und Gleichberechtigung auf die Chance reduzieren, aus einer gegebenen kulturellen Umgebung oder Tradition auszusteigen . Diese Verengung auf die Exit-Option wird von Autorinnen kritisiert, die sich selbst als multikulturelle Feministinnen bezeichnen, weil sie gleiche Rechte für Frauen nicht für unvereinbar halten mit der bejahten Zugehörigkeit derselben Frauen zu bestimmten ethnischen Communities oder Religionsgemeinschaften. Zu den interessantesten Vertreterinnen dieser Richtung gehört die israelisch-kanadische Rechtswissenschaftlerin Ayelet Shachar. ShacharsAnalysen, etwa in ihrem Buch Multicultural Jurisdictions (2001), sind schon deshalb interessant, weil sie die liberalen Zweifel an der Gerechtigkeit und Weisheit des Multikulturalismus ernst nehmen. Der Multikulturalismus, verstanden als Schutz von Minderheiten vor dem Assimilationsdruck von Staat und Mehrheitsgesellschaft, kann mit den Rechten der Individuen innerhalb dieser Minderheiten in Konflikt geraten. Während herkömmliche Liberale mit dieser Feststellung die Debatte beenden wollen, macht Shachar sie zum Ausgangspunkt der eigenen Überlegungen:
»I believe the main question we are faced with in the
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