Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
Vom Netzwerk:
gruppeninternen Bevormundung von Einzelnen im Namen des Kollektivs.Diese Deutung legt zwei empirische Einwände nahe. Erstens ist festzustellen, dass die eigentliche historische Konfliktlinie nicht zwischen der Regierung und den Individuen innerhalb der frankophonen Bevölkerung verläuft, die 80 Prozent der Bevölkerung Quebecs ausmacht, sondern zwischen französischen und englischen Muttersprachlern, also nicht zwischen Individuum und Kollektiv, sondern zwischen zwei Kollektiven. Dieser Konflikt ist bis heute nicht gelöst, wird aber durch einen Modus Vivendi eingedämmt, der vorsieht, dass Eltern ihre Kinder unter bestimmten Umständen auf englische Privatschulen schicken können, dass es englischsprachige Universitäten gibt (Taylor hat an einer von ihnen gelehrt) und überhaupt die Anglophonen viel mehr öffentliche Dienstleistungen in ihrer eigenen Sprache in Anspruch nehmen können als ähnlich lokalisierte Gruppen in europäischen mehrsprachigen Ländern wie der Schweiz oder Belgien (vgl. Carens 2000: 125). Solche empirischen Hinweise sind wichtig, weil sie auf ein grundsätzliches Problem verweisen. Habermas unterschätzt den Wert von zweitbesten , an der Herstellung eines Modus Vivendi orientierten Arrangements, weil er sich nicht ausreichend interessiert für Bedingungen in der realen Welt, unter denen sich sein Ideal einer allein auf Einsicht beruhenden Akzeptanz unaufhebbarer kultureller Vielfalt nicht realisieren lässt.
    Zweitens ignoriert er die Konsequenzen der Einführung eines Marktmodells der Sprachenwahl, das ihm anscheinend vorschwebt. Ein solcher Schritt würde nämlich von der frankophonen Mehrheit, die als nationale Minderheit innerhalb Kanadas anerkannt ist, als Angriff auf die eigene Integrität aufgefasst, was wiederum zur Sezession und zur Gründung eines unabhängigen Staates Quebec führen würde. Eine solche Lösung würde zwar am multikulturellen Charakter der Weltgesellschaft nichts ändern, aber doch das Bild einer Welt bestätigen, in der nationale Kulturen auf dem Umweg über die Zusammengehörigkeitsgefühle von vielen Einzelnen weiterhin als Staaten, nicht innerhalb von Staaten organisiert werden. »Individual cultures can only make a positive contribution to the rise of a world culture if they are respected in their own, stubborn individuality«, so Habermas (2002: 155) in einem Interview. Unklar bleiben bei dieser Äußerung, wie sich Habermas die politische Organisationsform des geforderten kulturellen Respekts vorstellt.
Zwei Varianten der feministischen Kritik
    Ähnlich wie die Diskussion um das Quebec-Beispiel kreist auch die feministische Diskussion von Anfang an um das Problem von Formen der Diskriminierung und Unterdrückung innerhalb bestimmter kulturell definierter Gruppen. Dies ist alles andere als ein nebensächliches Thema. Die Abwendung vom Multikulturalismus in Europa ist zu einem Teil der Wahrnehmung geschuldet, dass es – neben Homosexuellen – vor allem Frauen sind, die in »fremden Kulturen« besonders zu leiden haben. Die Liste der als kulturell klassifizierten Praktiken, vor denen die Gegner des Multikulturalismus die westliche Zivilisation durch ein allgemeines Importverbot bewahren möchten, umfasst den Kopftuchzwang, arrangierte Ehen, Polygamie, sexistische Rollenmuster und Scheidungsregeln, die selektive Abtreibung weiblicher Föten und anderes mehr. Wie wir gesehen haben, hat dieses Thema der gruppeninternen Diskriminierung auch Kymlicka und Habermas intensiv beschäftigt. Erst feministische Autorinnen haben jedoch am Material konkreter Konflikte die Diskussion substanziell vorangetrieben und eine »zweite Welle« (Shachar 2007) der Diskussion um den Multikulturalismus eingeleitet.
    Ich skizziere im Folgenden zunächst die Struktur einfacher feministischer Theorien, die bestimmte Formen der Entrechtung oder Unterdrückung von Frauen auf illiberale kulturelle Traditionen zurückführen, die damit nicht länger als schützenswert gelten sollen. Diese liberale Position beruft sich auf einen Begriff der durch subjektive Rechte verbürgten negativen Freiheit. Im Anschluss daran stelle ich komplexer argumentierende Beiträge vor, die eine Verschachtelung von Verhältnissen diagnostizieren. Gruppen, innerhalb derer die Teilgruppe der Frauen (oder auch der Kinder, Homosexuellen usw.) unterdrückt wird, können dieser Strömung zufolge ihrerseits unterdrückt werden und daher sehr wohl auf bestimmte Formen des Schutzes angewiesen bleiben, ohne dass dieser

Weitere Kostenlose Bücher