Der Skandal (German Edition)
Augenblick ist sie erleichtert.
»Wann kommen die denn endlich? Hast du gesagt, dass es dringend ist? Dass es um Leben und Tod geht – und um ein Kind?«, schreit sie ihn an. »Gehen die vorher noch was trinken?«
»Chris …«, versucht er sie zu beruhigen, »es ist gerade mal zehn Minuten her, dass ich angerufen habe. Sie sind sicher gleich da, bestimmt.«
»Und wenn nicht, Aaron? Was ist, wenn Jay auch noch …«
»Chris!«, herrscht er sie an, und sie zuckt zusammen. So hat sie ihn noch nie erlebt. »Chris! Du bist Detective! Hör auf!«
Er will Jay über den Kopf streichen, aber sie schiebt seine Hand weg und drückt Jays Kopf an sich. Noch immer keine kreisenden Lichter des Krankenwagens. Jay atmet, vergewissert sie sich, sein Herz schlägt, und sein Körper scheint ein bisschen wärmer geworden zu sein.
Sie atmet durch. Sie hat die Nerven verloren.
»Tut mir leid, Aaron«, ihre Stimme zittert wieder, »tut mir leid.«
Aaron muss der Notärztin geöffnet haben. Christina weiß nicht, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist.
»Ms. Andersson«, sagt die Ärztin, eine übergewichtige Frau mit kurzen roten Haaren, »bitte, Sie können mir vertrauen.«
Widerwillig gehorcht Christina, eigentlich will sie Jay dieser Fremden nicht anvertrauen, nicht ihr und auch niemand anderem.
Aaron legt die Hand auf ihre. »Chris, sie ist Ärztin«, sagt er, und endlich ist sie bereit, Jay loszulassen.
»Bitte …«, flüstert sie, »er darf nicht …«
Die Ärztin nickt, sie nimmt Jay hoch und legt ihn auf eine Trage. Dann untersucht sie ihn mit präzisen, schnellen Bewegungen.
»Ms. Andersson«, sagt die Ärztin, »ich werde Jay jetzt intubieren.«
»Warum?«, fragt Christina. Sofort steigt die Panik wieder in ihr hoch. »Er atmet doch!«
»Chris …« Aaron berührt ihren Arm.
»Er ist bewusstlos«, sagt die Ärztin. »Wahrscheinlich ist die Lunge verletzt.«
Alles geht so schnell, schon transportieren sie Jay nach draußen, Christina läuft hinter ihnen her, aber sie weiß, dass da drin ihr Bruder liegt und dass gleich die Cops kommen und ihr Fragen stellen wollen.
»Christina, fahr mit, ich warte auf die Kollegen und kümmere mich drum«, hört sie Aaron hinter sich sagen.
Als sie ins Freie tritt und die grellen Lichter des Rettungswagens ins Dunkel der Nacht brennen, wird auf einmal alles real. Schlimmer noch: Ihr Albtraum und der vieler Cops ist wahr geworden: Die eigene Familie ist Opfer eines Verbrechens geworden.
Benommen steigt Christina in den Krankenwagen und nimmt Jays Hand. Sie erschrickt, weil sie so kalt ist. Sie will etwas sagen, doch die Notärztin hat schon verstanden. »Er hat viel Blut verloren, wir geben ihm eine Ersatzlösung.«
Eine Ersatzlösung … Mein Gott, er ist doch noch so klein! Bleib bei mir, Jay, bleib bei mir!
Als sie losfahren, nimmt sie die kreisenden Lichter und die Sirene der beiden Polizeiwagen wahr, die gerade vor dem Haus halten. Die Spurensicherung wahrscheinlich.
Durch das Heckfenster sieht sie, wie ihr Haus immer kleiner wird. Ein ganz normales Haus, vier Zimmer, eine kleine Terrasse, ein Garten mit Garage. Am Nachbarhaus leuchtet noch der Weihnachtsschmuck vom letzten Monat. Santa Claus zieht auf seinem Rentierschlitten über das Dach. Hier glaubt man sich in Sicherheit, einigermaßen wenigstens, deshalb wohnt man nicht in der Innenstadt, nicht im Westen, nicht im Süden.
Sie ist in dieses Viertel gezogen, in dem fast ausschließlich Weiße leben. Sie hat Jay aus der öffentlichen Schule in eine Privatschule wechseln lassen. Ihren Eltern ist sie dankbar für die finanzielle Unterstützung. Sie will nicht rassistisch denken, aber sie kann auch nicht so tun, als gäbe es kein Schwarz, kein Weiß, selbst wenn sie weiß, dass es nicht an der Hautfarbe liegt, sondern am sozialen Umfeld …
Sie rutscht auf ihrem Sitz herum, der Fahrer weiß, wie eilig es ist, er gibt Gas und bremst und gibt wieder Gas. Ich muss Mom und Dad Bescheid geben, fällt ihr ein. Tim ist tot. Mein Gott, wie soll ich es ihnen sagen?
Sie erinnert sich noch genau: Kurz vor Weihnachten hat Tim sie angerufen. »Ich brauche Abstand, Chrissie! Ich kann nicht mehr mit Rita zusammenleben.«
»Du kannst erst mal bei uns wohnen. Jay freut sich über einen Mann im Haus«, hat sie gesagt.
Und ihre Eltern sind glücklich. Tims Frau haben sie nie besonders gemocht – und auf einmal ist es fast so wie früher. Vater, Mutter, Bruder, Schwester. Und Jay.
Harpole stapft in der Dunkelheit durch den Schnee
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