Der Skandal (German Edition)
Grund?«, wiederholt ihre Mutter in ihrer penetranten Art, mit der sie schon früher, als Christina noch zur Schule ging, gefragt hat: Wieso nur mittelmäßig, Christina?
»Maggie, Christina meint, manchmal sucht sich ein Einbrecher ein Haus aus und …«
»Aber es wurde doch nichts gestohlen, Herb!« Christinas Mutter wendet sich wieder an sie. »Oder doch?«
»Nein, es sieht erst mal nicht so aus.«
»Siehst du!«, ereifert sich ihre Mutter. »Das war kein Einbruch, Herb!« Sie nickt jetzt. »Ich weiß, was das war.«
Christina runzelt die Stirn. »Was?«
Ihre Mutter sitzt steif da, sie hat sich wieder unter Kontrolle. »Wahrscheinlich wollte sich jemand an Christina rächen.«
»Wie kommst du denn darauf, Maggie?«, fragt Christinas Vater verwundert.
»Mein Gott, Herb, sie hat doch den Mörder von dem kleinen Mädchen festgenommen! Und nicht nur den. Da draußen wartet dieser Abschaum nur darauf, sich an Christina zu rächen!«
Jetzt reicht es Christina. »Du bist schrecklich, Mom! Du weißt, wie alles funktioniert, ja? Die Welt ist so, wie du sie siehst, alles andere existiert für dich gar nicht oder ist …«
»Das stimmt doch gar nicht!«
»… ist das Resultat von Dummheit, Unbildung und Drogenmissbrauch!«
Ihre Mutter sieht ihren Vater streng an: »Herb! Jetzt sag du auch mal was!«
»Maggie …«, beginnt er.
»Christina hat sicher denselben Verdacht, sie will es uns nur nicht sagen!«
»Mom, wie kannst du so was behaupten!«
»Es ist doch die Wahrheit! Sie bringt diese Leute ins Gefängnis, und dann muss sie sich nicht wundern, wenn sich diese Typen an ihr rächen!«
»Maggie, ich weiß nicht, ob …«
»Mom!« Die Art ihrer Mutter, in der dritten Person über sie zu sprechen, macht sie rasend. Sie weiß, der einzige Grund, weshalb sie jetzt nicht brüllt, ist, dass Jay da drin liegt.
»Ich war schon immer dagegen, dass Christina zur Polizei geht!«, redet ihre Mutter aufgeregt weiter. »Immer! Du doch auch, Herb! Sei doch ehrlich! Ihre alte Freundin Olivia ist Managerin bei Foxtail , sie braucht keine Pistole! Oder Joy, erst neulich hab ich wieder einen wunderbaren Artikel von ihr über eine Reise nach Patagonien gelesen … Es hätte so viele schöne Berufe für Christina gegeben!«
»Mom!« Jetzt schreit Christina doch. »Hör auf, mir die Schuld zu geben!«
Ihre Stimme klingt schrill, und sie muss sich zurückhalten, um ihre Mutter nicht an den Schultern zu packen und zu schütteln.
»Christina, deine Mutter ist völlig verzweifelt …« Ihr Vater versucht zu beschwichtigen, wie schon sein ganzes Eheleben lang.
Ihre Mutter fängt an zu schluchzen und presst sich das Taschentuch auf Mund und Nase. Christinas Vater will sie umarmen, aber sie stößt ihn weg.
Wie gut Christina das kennt. Ihre Mutter darf als Einzige aus der Haut fahren, und alle anderen haben die Aufgabe, sie zu beruhigen.
»Ich bin auch verzweifelt«, sagt Christina, »Tim war mein Bruder. Und da drin kämpft mein Kind um sein Leben …«
»Warum, um Gottes willen, hast du nicht früher an dein Kind gedacht!«
»Halt endlich deinen Mund, Mom!«, schreit Christina. Ihre Mutter zuckt zusammen. »Ich will nie wieder so was hören! Nie, nie wieder!«
»Mrs. Andersson?«
Christina weiß nicht, wie es weitergegangen wäre, wenn die Krankenschwester nicht in diesem Augenblick ihren Namen gerufen hätte.
»Ihr Sohn ist jetzt auf der Intensivstation«, sagt die Krankenschwester. »Sie können dort im Warteraum Platz nehmen.«
Ganz selbstverständlich, als hätte die Krankenschwester sie gemeint, steht Christinas Mutter auf. Christina sieht sie an. »Ihr bleibt hier. Ich sage euch Bescheid.«
Dann folgt sie der Krankenschwester durch den endlosen Flur.
Sie legt die Hand an die kalte Glasscheibe.
Er ist so winzig zwischen den Überwachungsgeräten, den Kabeln und Schläuchen. Wie zerbrechlich doch alles ist, denkt sie. Er ist noch so klein, dieses Leben darf nicht einfach so verlöschen. Es ist ein Teil von ihr.
Plötzlich kann sie nicht mehr. Sie kämpft gegen die gewaltige Woge an, die auf sie zurollt. Sie hält die Luft an, schließt die Augen, aber nichts hilft. Der Schmerz überwältigt sie. Er ist überall, in jedem Teil ihres Körpers. Er nimmt ihr die Luft, presst ihr das Herz zusammen, bis sie die Tränen nicht mehr zurückhalten kann. Die Welle schlägt über ihr zusammen.
Mit brutaler Nüchternheit erkennt sie: Sie hat ihren Bruder verloren und vielleicht auch Jay. Sie konnte ihn nicht beschützen vor
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